Gezinkt
nein. Bitte!« Sie wich zurück, ihre nackten Füße schmerzten auf dem kalten Boden.
Sie hörte, wie er zu ihr nach unten stieg – das Knarren der Holztreppe verriet ihn. Aber dann trat er auf den Steinboden, und sie konnte ihn nicht mehr orten.
Nein... In ihren Augen standen Tränen.
»Bist du zurückgekommen, um mich ebenfalls in eine von deinen Puppen zu verwandeln?«
Marissa wich zurück. Wo war er? Sie konnte ihn nicht hören.
Wo?
War er...?
Heißer Atem strich über ihre linke Wange. Er war unmittelbar neben ihr.
»Lucia!«
Sie schrie und fiel auf die Knie. Sie konnte sich nicht in die Richtung bewegen, in der sie die Treppe vermutete – weil er im Weg stand -, aber sie erinnerte sich, eine kleine Tür an der gegenüberliegenden Wand gesehen zu haben. Vielleicht führte sie ins Freie. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie die Tür gefunden hatte; sie riss die Tür auf, kroch hinein und schlug sie hinter sich wieder zu.
Schluchzend entzündete sie ein Streichholz.
Nein!
Sie fand sich in einer winzigen Zelle wieder, vielleicht ein Meter zwanzig hoch und kaum vier Quadratmeter groß. Keine Fenster, keine weitere Tür.
Durch ihre Tränen hindurch sah sie einen Gegenstand auf dem Boden vor sich. Zitternd und mit klopfendem Herzen beugte sie sich vor und sah, dass es eine Porzellanpuppe war. Ihre schwarzen Augen starrten an die Decke.
Und an der Wand waren dunkelbraune Streifen – Blut, wie sie begriff – von der letzten Insassin dieser Zelle, von Lucia, die ihre letzten Tage hier in blanker Angst verbracht und vergeblich versucht hatte, sich mit bloßen Händen durch das Gemäuer zu graben.
Das Streichholz ging aus, und Dunkelheit umgab sie.
Marissa brach schluchzend, in panischem Entsetzen, auf dem Boden zusammen. Was war ich nur für eine Närrin, dachte sie.
Ich werde hier sterben, ich werde hier sterben …
Doch dann hörte sie von außerhalb der Zelle Antonios Stimme, die plötzlich wieder völlig normal klang.
»Alles in Ordnung, Marissa«, rief er. »Mach dir keine Sorgen. Hinter einem losen Stein links neben der Tür gibt es einen Lichtschalter. Schalt das Licht an. Lies die Nachricht, die in der Puppe versteckt ist.«
Was ging hier vor sich? Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, fand den Schalter, betätigte ihn. Blinzelnd im hellen Licht bückte sie sich und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der hohlen Puppe. Sie las:
Marissa, die Wand links von dir ist falsch. Sie ist aus Plastik. Zieh sie ab, und du wirst eine Tür und ein Fenster sehen. Die Tür ist nicht verschlossen. Wenn du bereit bist zu gehen, stoße sie nach außen auf. Aber sieh zuerst aus dem Fenster.
Sie riss den Kunststoff ab. Da war tatsächlich ein Fenster. Sie schaute hinaus und sah die Fußgängerbrücke. Anders als zuvor war das Grundstück nun gut mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Sie sah Antonio, der mit seinem Koffer über die Brücke ging. Er hielt inne, er musste das Licht im Fenster der Zelle gesehen haben und wusste, dass sie ihn beobachtete. Er winkte. Dann verschwand er in Richtung Parkplatz. Einen Augenblick später hörte sie, wie er seinen Wagen startete und wegfuhr.
Was zum Teufel war hier los?
Sie stieß die Tür auf und trat ins Freie.
Da standen ihr Koffer und ihre Handtasche. Sie riss sich das Kleid vom Leib, zog sich mit zitternden Händen rasch um und holte das Handy aus der Handtasche. Sie hielt es in einer Weise fest, wie sich verängstigte Kinder an ein Stofftier klammern. Dann fuhr sie fort, den Brief zu lesen.
Du bist in Sicherheit. Du warst nie in Gefahr.
Ich bin auf dem Rückweg nach Florenz und nicht irgendwo in der Nähe der Mühle. Aber glaub mir, dass ich kein psychopathischer Mörder bin. Es gibt keine Lucia. Die alte Frau, die dir von ihr erzählt hat, bekam hundert Euro für ihre Vorstellung. Es gab keinen kleinen Jungen, der ertrunken ist; ich habe die Blumen und das Kreuz selbst dort hingelegt, ehe ich dich heute am Bahnhof abgeholt habe. Der Fußball ist nur ein Requisit. Das Blut an der Zellenwand ist Farbe. Die Tabletten waren Bonbons (der Grappa allerdings war echt – und äußerst rar, wie ich hinzufügen darf). Das Foto von mir und meiner »Frau« wurde am Computer hergestellt.
Wahr ist hingegen: Ich heiße Antonio, ich war nie verheiratet, ich habe ein Vermögen mit Computern verdient, und dies ist mein Ferienhaus.
Was, so wirst du dich fragen, soll das alles?
Ich muss es erklären: Als Kind verbrachte ich viel Zeit einsam und
Weitere Kostenlose Bücher