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Gezinkt

Gezinkt

Titel: Gezinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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gelangweilt. Ich tauchte in die Welt der großen Autoren von Horrorgeschichten ein. Sie machten mir Angst, sicher, aber sie belebten mich auch. Wenn ich ein Publikum bei einem Horrorfilm betrachtete, dachte ich: Sie fürchten sich, aber sie leben.
    Diese Erfahrungen ließen mich zu einem Künstler werden. Wie bei jedem wahrhaft großen Musiker oder Maler besteht mein Ziel nicht einfach nur darin, Schönheit zu erschaffen, sondern ich möchte den Menschen die Augen öffnen und ihre Sichtweise und Wahrnehmung verändern. Der einzige Unterschied ist, dass mein Medium nicht Töne oder Farben sind, sondern Furcht. Wenn ich Menschen wie dich sehe, die, wie Dante schreibt, vom wahren Pfad im Leben abgekommen sind, betrachte ich es als meine Mission, ihnen dabei zu helfen, zu ihm zurückzufinden. An dem Abend in Florenz, an dem wir uns kennenlernten, habe ich dich ausgewählt, weil ich sah, dass deine Augen tot waren. Und ich erfuhr bald, wieso – die Unzufriedenheit mit deiner Arbeit, dein autoritärer Vater, dein bedürftiger Ex-Mann. Aber ich wusste, ich kann dir helfen.
    Oh, in diesem Augenblick hasst du mich natürlich; du bist wütend. Wer wäre das nicht?
    Aber stell dir folgende Frage, Marissa, und schau tief in dein Herz dabei: Hast du dich nicht wunderbar lebendig gefühlt, weil du solche Angst hattest?
    Unten stehen drei Telefonnummern.
    Eine ist für einen Mietwagenservice, der dich zum Bahnhof in Florenz zurückbringt.
    Die zweite ist das hiesige Polizeirevier.
    Die dritte ist meine Handynummer.
    Es bleibt dir überlassen, welche du wählst. Ich hoffe aufrichtig, du wählst die letzte, aber wenn du es nicht tun willst – weder heute noch später einmal -, werde ich es verstehen. Es gehört schließlich zum Wesen der Kunst, dass der Künstler seine Schöpfung manchmal in die Welt hinausschicken muss, ohne sie jemals wiederzusehen. Dein Antonio
     
    Wütend, in Tränen aufgelöst und zitternd ging Marissa zu einer Steinbank am Bachufer. Sie setzte sich und holte tief Luft, die Nachricht in der einen Hand, das Handy in der anderen. Sie hob den Blick zu den Sternen. Plötzlich blinzelte sie erschrocken. Eine große Fledermaus, eine dunkle Gestalt vor dem dunkleren Himmel, flog in einem komplizierten, aber eleganten Zickzackmuster über sie hinweg. Marissa sah ihr gebannt zu, bis das Geschöpf jenseits der Bäume verschwand.
    Sie richtete den Blick wieder auf den Bach, hörte das drängende Murmeln des vorbeifließenden Wassers. Im Licht eines an der Außenwand der Mühle angebrachten Scheinwerfers las sie eine der Nummern ab, die ihr Antonio aufgeschrieben hatte, und hämmerte sie in ihr Handy.
    Doch dann hielt sie inne, lauschte erneut dem Wasser, atmete die kühle Luft mit ihrem Duft nach Lehm, Heu und Lavendel ein. Marissa löschte die Ziffern, die der Schirm ihres Handys anzeigte. Und sie wählte eine andere Nummer.

Der Freispruch
    »Es gibt keinen Besseren als mich.«
    »Hm, hm. Wie sehen meine Möglichkeiten aus?«
    Paul Lescroix lehnte sich in dem alten Eichenstuhl zurück, sah auf die Lehne hinunter und zupfte an einem Stück Firnis in der Form von Illinois. »Beten Sie manchmal?«, fragte er mit seiner Baritonstimme anstelle einer Antwort.
    Die Fesseln klirrten, als Jerry Pilsett die Hände hob und sich ans rechte Ohrläppchen schnippte. Lescroix kannte den Mann jetzt ganze vier Stunden, und er musste das Ohrläppchen in dieser Zeit ein Dutzend Mal angeschnippt haben. »Nö«, sagte der dürre, junge Mann mit den schiefen Zähnen. »Ich bet nich’.«
    »Nun, Sie sollten es sich angewöhnen. Und dem Herrn danken, dass ich hier bin, Jerry. Sie haben es geschafft.«
    »Da is’ noch Mr. Goodwin.«
    Ach, ja, Goodwin, ein neunundzwanzigjähriger Pflichtverteidiger. Ahnungsloser Komplize der örtlichen Richter, wenn es darum ging, seinen Klienten zwei- bis dreimal höhere Strafen einzubrocken, als sie verdient hatten. Ein Bauerntrottel wie alle anderen hier.
    »Behalten Sie Goodwin, wenn Sie wollen.« Lescroix stellte seine kastanienbraunen italienischen Schuhe auf den Betonboden und schob seinen Stuhl zurück. »Mir egal.«
    »Warten Sie. Es is’ nur so, dass er mein Anwalt ist, seit sie mich verhaftet haben. Seit fünf Monaten«, fügte er bedeutungsschwer hinzu.
    »Ich habe die Unterlagen gelesen«, sagte Lescroix trocken. »Ich weiß, wie lange ihr beiden schon zusammen im Bett seid.«
    Jerry blinzelte. Als er diesen Ausdruck nicht verarbeiten konnte, fragte er: »Sie sagen, Sie sind besser als er? Isses

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