Gezinkt
ging in die Küche. Sie bemerkte, dass er die Tür zum Weinkeller offen gelassen hatte. Sie warf einen Blick hinunter und konnte einen großen Teil des Raums einsehen. Er war keineswegs unaufgeräumt, wie er gesagt hatte. Tatsächlich war er makellos sauber und sehr ordentlich. Sie hörte, wie Antonio in einem anderen Teil des Hauses ein Fenster oder eine Tür schloss, und schlich aus Neugier halb die Treppe hinab. Sie hielt inne und blickte stirnrunzelnd auf etwas, das unter einem Tisch hervorlugte. Es war ein Fußball, aus dem die Luft halb entwichen war.
Sie erinnerte sich, dass der Junge, der ertrunken war, mit einem Fußball gespielt hatte. War das seiner gewesen?
Marissa ging ganz nach unten, bückte sich und hob den Ball auf. Es war eine besondere Ausführung, die an einen großen Erfolg das AC Mailand im letzten Jahr erinnerte; das Datum war aufgedruckt. Es konnte also nicht der Ball des toten Jungen sein – Antonio hatte gesagt, dass er ertrunken war, als der Vorbesitzer noch hier wohnte. Doch Antonio gehörte die Mühle seit mindestens fünf Jahren – denn so lange war sein Vater, der ihm beim Renovieren geholfen hatte, schon tot. Es war nur ein merkwürdiger Zufall.
Aber Moment mal... Da sie nun an seinen Bericht über den Vorfall zurückdachte, erinnerte sie sich, dass Antonio gesagt hatte, niemand wisse genau, was passiert sei. Aber wenn das zutraf, woher konnte er dann wissen, dass es eine halbe Stunde gedauert hatte, bis der Junge tot gewesen war?
Furcht begann sich in ihrem Innern auszubreiten. Sie hörte seine knarrenden Schritte irgendwo über ihr, legte den Ball zurück und wandte sich der Treppe zu. Doch dann blieb sie mit stockendem Atem stehen. An einer Steinwand rechts von der Treppe hing ein Foto. Es zeigte Antonio und eine Frau, die Marissa sehr stark ähnelte, das Haar fiel ihr lose über die Schulter. Die beiden trugen Eheringe – obwohl er behauptet hatte, nie verheiratet gewesen zu sein.
Und die Frau trug genau das Kleid, das Marissa jetzt anhatte.
Es konnte nur Lucia sein.
Die letztes Jahr gestorben war.
Mit verblüffender Klarheit begriff Marissa: Antonio hatte seine Frau ermordet. Der Junge mit dem Fußball hatte vielleicht ihre Hilfeschreie gehört oder war Zeuge des Mordes geworden. Antonio war ihm nachgejagt und hatte ihn in den Bach geworfen, wo er in den Abflusskanal gesogen wurde und ertrank, während der wahnsinnige Ehemann zusah, wie er starb.
Mit pochendem Herzen näherte sie sich dem Sideboard unter dem Foto. Dort lag die graue Tüte, die Antonio in Florenz abgeholt hatte, neben der eben geöffneten Grappaflasche. Marissa schaute in die Tüte. Sie enthielt eine halb leere Flasche mit Barbituraten. Auf dem Sideboard sah sie Pulverspuren von derselben Farbe wie die Pillen – ein Gelb wie die Augen der alten Frau, die an Antonios Wagen gekommen war.
Es sah aus, als hätte er ein paar von den Tabletten zermalmt.
Um sie in ihren Grappa zu mischen, begriff Marissa.
Panik durchflutete sie und sammelte sich in ihrem Bauch. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so gefürchtet. Sein Plan hatte also vorgesehen, sie unter Drogen zu setzen – und dann?
Sie durfte keine Zeit mit Spekulationen vergeuden. Sie musste fliehen. Sofort!
Als Marissa die Treppe hinaufschaute, erstarrte sie.
Antonio stand über ihr. In der Hand hielt er ein Schnitzmesser. »Ich sagte doch, ich will nicht, dass du in den Weinkeller gehst, Lucia.«
»Was?«, flüsterte Marissa, kraftlos vor Entsetzen.
»Wieso bist du zurückgekommen?«, flüsterte er. Dann lachte er, dass es ihr kalt über den Rücken lief. »Ach, Lucia, Lucia... Du bist von den Toten auferstanden. Warum? Du hast es verdient zu sterben. Du hast mich in dich verliebt gemacht, du hast mein Herz und meine Seele gestohlen, und dann wolltest du einfach fortgehen und mich allein lassen.«
»Antonio«, sagte Marissa mit brüchiger Stimme, »ich bin nicht...«
»Du dachtest, ich sei nur eine deiner Puppen, oder? Etwas, das du erschaffen und dann verkaufen und im Stich lassen kannst.«
Er schloss die Tür hinter sich und kam die Treppe herunter.
»Nein, Antonio, hör mir zu...«
»Wie hast du es fertiggebracht, zurückzukommen?«
»Ich bin nicht Lucia!«, schrie sie.
Sie dachte an ihre erste Begegnung zurück. Es war kein Engel gewesen, an den sie ihn damals erinnert hatte, sondern die Ehefrau, die er ermordet hatte.
»Lucia«, stöhnte er.
Er hob die Hand und schaltete das Licht aus. Es wurde stockdunkel.
»O Gott,
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