Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
abgenommen», sage ich, «weil ich seit vorgestern Abend nur weißen Joghurt essen konnte. Und ein paar Erdbeeren.»
«Warum machen Sie so, Frl. Krise?»
Ich erzähle Ömür, dass ich vorgestern Abend Fisch gebraten habe und dazu ein paar Pilze. Das passte zwar nicht besonders zusammen, aber ich war zu faul, um einkaufen zu gehen. Ich aß alles auf und entdeckte dann auf dem leeren Teller in der Sojasauce schwimmend drei kleine gebratene Maden.
«Iiiieeehhh!», schreit Ömür, und Herr Hänlein dreht sich besorgt nach uns um.
«Ja, das war voll eklig», bestätige ich. «Ich konnte danach bloß noch weißen Joghurt essen. Obwohl es ja eigentlich albern ist!»
Ömür hat vollstes Verständnis für mich. Er seufzt und klopft sich auf den Bauch. Der schwabbelt unter dem Poloshirt.
Die Führung dauert über eine Stunde. Wir schwitzen um die Wette, und ich bin genauso glücklich wie die Schüler, als es vorbei ist. Die werden jetzt von mir entlassen und nutzen die Gelegenheit: Schnell zu McDoof, wohin sonst!
«Kommen Sie mit, Frl. Krise?», fragt Emre mich.
«Ich muss zurück in die Schule», seufze ich. «Zeugniskonferenz! Aber danke für die Einladung!»
«Gehst du auch mit?», frage ich Ömür.
Er nickt und nimmt einen Schluck Cola. «Aber ich ess nix.» Ömür sieht ganz unglücklich aus.
Ich habe mir vor der Konferenz noch rasch ein dickes Käsebrötchen gekauft. Ich musste an Ömür denken, schließlich isst der bestimmt auch gerade einen Big Mac.
Lieblingskinder
Lieblingskinder? Ja, ich gebe zu, so etwas gibt es. Glaubt keinem Lehrer, der das abstreitet!
Sympathie ist ein Vogel, dem du nicht vorschreiben kannst, wohin er fliegt. Und manchmal ist es nicht nur Sympathie, sondern Liebe auf den ersten Blick. Und manchmal wird eine kleine Zuneigung trotz oder wegen der entsetzlichen Probleme, die ein Kind hat, ganz groß.
Lieblingsschüler rühren etwas in uns an. Ömür ist so einer …
Oder Michelle und Klaus. An meiner ersten Schule wurde ich die Klassenlehrerin der beiden. Sie waren Schüler einer siebten Hauptschulklasse, die ich übernahm. Klaus war adoptiert und Michelle in derselben Familie Pflegekind. Sie nannten sich Geschwister, aber sie stammten aus verschiedenen Herkunftsfamilien.
Klaus war klein, rundlich und hatte dicke braune Locken. Er wusste nichts Genaues über seine Eltern, außer dass er seine ersten zwei Lebensjahre mit seiner Mutter im Knast verbracht hatte. Ali hieß er mit zweitem Vornamen. Daraus schloss er, dass sein Vater Türke sein müsse.
Michelle, ein hübsches großes, schmales Mädchen mit langen schwarzen Haaren und südländischem Aussehen, wusste, dass ihre Mutter Deutsche war, und brüstete sich damit, dass ihr Vater angeblich aus Puerto Rico stamme.
Die Kinder hingen sehr aneinander, und das war auch nötig, denn es ging ihnen in ihrer «Familie» nicht gut. Im Laufe der Jahre zogen sie mich immer mehr ins Vertrauen, und es war deprimierend zu sehen, wie wenig man in solchen Fällen helfen kann. Nach dem Schulabschluss lief zuerst Klaus, dann auch Michelle fort. Sie tauchten ab. Gelegentlich meldeten sie sich bei mir und ließen mich an ihren kleinen und großen Tragödien teilhaben.
Es geschah all das, was zu früh entwurzelten jungen Menschen geschehen kann. Drogenkonsum, Obdachlosigkeit, Kriminalität, Knast – nichts ließen sie aus. Michelle wurde mit achtzehn schwanger und bekam einen kleinen Jungen. Den gab sie, als er zwei Jahre alt war, in Pflege, riss ihn da aber bald wieder heraus. Später lebte er in wechselnden Heimen und zwischendurch immer mal bei ihr. Die Geschichte wiederholte sich.
Klaus, der mir seine Homosexualität gestand, sie aber erfolgreich vor seiner Schwester verbarg, verschwand für drei Jahre. Er wurde Koch und zog durch die Welt. Einmal besuchte er mich, unter anderem deshalb, weil ich die Einzige war, über die er einen Kontakt zu seiner Schwester herstellen konnte. Eines Tages stand er bei mir im Garten, äußerlich so verändert, dass ich ihn kaum erkannte. Er sah schmal und angegriffen aus, hatte mir eine teure Dose Kaviar mitgebracht und erzählte nur wenig. Dann verschwand er wieder, es gab nur noch ein paar Anrufe, bei den letzten stand er offensichtlich schwer unter Drogen.
Michelle, die darunter sehr litt, dass sie nicht wusste, wo Klaus sich aufhielt, durchlebte verschiedene Beziehungen, machte eine Ausbildung und arbeitete hart. Ja, Arbeit wurde für sie zeitweise fast zu einer Droge. Sie hatte inzwischen ihre Mutter
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