Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
und rattere die Themen herunter, die er lernen muss.
«Schreib dir das auf!», sage ich.
Erkan stöhnt auf. «So viel?»
Ich stöhne auch, aber nur innerlich, äußerlich sage ich betont milde: «Es ist eine Prüfung, Erkan. Wenn du die bestehst, sparst du dir ein ganzes Schuljahr, und da musst du uns schon zeigen, dass du den Stoff wenigstens teilweise aufgearbeitet hast. Du kannst dir zusätzlich auch noch ein Prüfungsthema deiner Wahl aussuchen.»
«Kann ich Referat halten?», fragt er hoffnungsvoll.
Ja, das hätte er wohl gern! Sich bei Wikipedia irgendwas ausdrucken (man freut sich ja schon, wenn die Links entfernt wurden) und dann ohne Sinn und Verstand vortragen.
«Auf gar keinen Fall!»
«Aber wie soll ich das alles lernen, bis nächste Woche, vallah?» Erkan sieht mich voll belämmert an.
«Erkan, hörst du mir nie zu? Das habe ich dir schon dreimal erklärt. Die Nachprüfung ist erst am Ende der großen Ferien. Am vorletzten Ferientag.»
Nach dieser niederschmetternden Mitteilung geht Erkan auf Tauchstation. Er legt seine Arme auf den Tisch, den Kopf obendrauf, schließt die Augen und gähnt, was das Zeug hält. Der Biologieunterricht rauscht an ihm vorüber, wie immer.
Ich ermuntere ihn ein wenig, spreche ihn ab und zu freundlich an, erkundige mich vorsichtig nach dem Verbleib seines Bio-Hefters («Verloren!») und erinnere ihn am Ende der Stunde daran, dass er so nicht gerade einen hochmotivierten Eindruck bei mir hinterließ. Psychologisch sei das ein wenig unklug, vielleicht …
Erkan reibt sich ausführlich die Augen, guckt mich schläfrig von unten an und sagt dann matt: «Aber ich mache nicht Bio, Frl. Krise. Ich hab’s mir überlegt, ich mach Deutsch!»
Meine erste Klasse
Meine erste Klasse! Mein allererstes Klassenfoto! Ein Schwarzweißfoto! Zweiunddreißig Kinder. Die Jungen haben längere Haare als heute, tragen Schlaghosen und gucken ernst. Die Mädchen lächeln verlegen in die Kamera. Sie sehen in ihren Ringelpullis kindlicher aus als gleichaltrige Mädchen heute. Ich erkenne alle Kinder, auch wenn ich mich nicht mehr an jeden Namen erinnere. Es waren deutschstämmige Kinder: Andreas, Sonja, Sven, Monika, Denis, Björn. Nur drei Kinder mit Migrationshintergrund gab es in der Klasse: Guido aus Italien, Altan aus der Türkei und Mohammed aus dem Iran. Sie waren schon als Kleinkinder nach Deutschland gekommen und beherrschten die deutsche Sprache ziemlich gut – kein Wunder, in der Schule sprach auch sonst fast niemand ihre Muttersprache. Nur Guido hatte Probleme, er verwechselte alle Artikel und lernte sie auch nicht mehr, solange ich ihn kannte.
Ich fand diese Kinder äußerst interessant. Ausländische Kinder! So etwas kannte ich aus meiner eigenen Schulzeit nicht. Guido war klein und quirlig, er boxte in seiner Freizeit und bot jedem, der ihm schräg kam, ein «Kämpfchen» an. Altan war ein ehrgeiziger Schüler, er lief still und unauffällig mit. Bei Mohammed bestand die Gefahr, dass er zum Außenseiter gemacht wurde, die anderen Jungen ärgerten ihn oft, nannten ihn «Ausländer», und er fühlte sich in seiner Rolle sichtlich unwohl.
Über ihren familiären Hintergrund wusste ich wenig, über Altans und Mohammeds Religion gar nichts, wie auch? Der Islam spielte in Deutschland damals keine Rolle. Die Kinder gehörten zu einer versteckten Gesellschaft, die kaum wahrgenommen wurde. Gastarbeiter! Sie lebten zwar schon einige Zeit in Deutschland, aber man hatte wenig gemeinsame Berührungspunkte. Man kannte vielleicht gerade einmal den türkischen Gemüsehändler an der Ecke und den «kleinen Griechen», zu dem man hin und wieder essen ging.
Die Eltern meiner «ausländischen» Schüler lernte ich nicht kennen, nur Guidos Vater, der erschien einmal, weil ich ihn einbestellt hatte.
«Guido ist nicht gut in seinen Leistungen, und er verhaut andere Kinder», berichtete ich ihm. Aber der Vater verstand mich nicht. Wir kommunizierten mehr schlecht als recht mit Händen und Füßen. Mit der Hand wurde wohl auch Guido gestraft, später, zu Hause. Er zeigte mir am nächsten Tag mehrere Blutergüsse. Das tat mir leid, das wollte ich nicht. Wenn ich mich doch besser mit dem Vater hätte unterhalten können! Und Guido blieb schwierig.
Auch mit dem deutschen Björn gab es Probleme. Er war groß, dick und faul. Seine Mutter, auch groß und dick, fragte mich besorgt: «Was soll ich bloß tun mit dem Kind, Frl. Krise?»
Ich wusste es nicht. Woher auch? Die Mutter ist doch viel älter
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