Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Kerl.
«Ich klettere mal flott hoch und hol mir den.» Daniel setzte sich auch schon in Bewegung.
«Auf keinen Fall!», riefen meine Kollegin Edda und ich aus einem Munde, und Daniel blieb widerstrebend stehen.
«Aber da ist alles von mir drin», jammerte er. «Echt alles! Ich brauch den Rucksack!»
«Alles» war damals nicht allzu viel, vielleicht das Portemonnaie und die Busfahrkarte – Handys und Gameboys oder iPhones gab es in den frühen Achtzigern noch nicht.
«Lassen S’ den Bub doch», mischte sich der junge Mann ein, der die Seilbahn bediente. «Der Hang ist net steil, der hat nur arg viel Brennnessel! Was sin mer gekraxelt in dem Alter.»
Wir waren unschlüssig, Daniel war eine Stadtpflanze, verweichlicht, weinerlich und hochgradig verpeilt. Ich hatte nicht die geringste Lust, wegen seiner Schusseligkeit ins Kittchen zu wandern.
«Fahren S’ doch noch mal zusammen hoch mit dem Bub und gleich wieder runter und gucken S’ genau, wo der liegt, der Rucksack!» Dieser Mensch von Seilbahnbediensteter ging mir auf die Nerven. Jetzt versuchte er auch noch mit Edda anzubandeln und spendierte ihr eine Zigarette.
Daniel und ich durften also noch ein weiteres Mal umsonst rauf- und wieder runterfahren – zum Missfallen der ganzen Klasse. Und obwohl ich kurzsichtig in die Tiefe starrte und Daniel «Da! Da! Da liegt er, ich hab’s genau gesehen!» schrie, konnte ich nichts außer Brennnesseln und ein bisschen Müll entdecken.
Unten angekommen, wurde Daniel von uns mit guten Ratschlägen überschüttet, dann kraxelte er los. Der Hang ist nicht gefährlich, redete ich mir ein, und Brennnessel sind sehr gut gegen Rheuma. Besonders wenn man kurze Hosen anhat. Ich nahm mir schon mal vor, alle Schuld auf den Seilbahnmann zu schieben und, falls wir doch verurteilt würden, eine Doppelzelle zu beantragen. Dann wäre es unterhaltsamer im Knast, also für Edda und mich.
Daniel befand sich schließlich auf halber Höhe und kletterte ein bisschen unentschlossen hin und her. Nach einer Weile schrie er auf und hielt etwas Rotes in der Hand. Gott sei Dank!
Schnell war er wieder unten. «Aua, aua», jammerte er, «die scheiß Brennnesseln!»
«Daran kann ich jetzt auch nichts ändern», sagte ich kühl. «Nächstes Mal hältst du deine Sachen besser fest. Und im Übrigen ist unser Bus weg. Wegen deiner Aktion dürfen wir eine Stunde auf den nächsten warten.»
Daniel machte schmale Augen. Er legte den Kopf in den Nacken, fixierte mich und sagte leise: «Wissen Sie was, Frl. Krise? Sie haben ganz schön Ihre Aufsichtspflicht verletzt. Eigentlich hätten Sie mich da nicht hochklettern lassen dürfen. Wenn ich das meinem Vater erzähle, kriegen Sie Ärger. Sie wissen ja, der ist Anwalt.»
Ich frage mich noch heute, was mich damals davon abgehalten hat, noch einmal mit der Seilbahn hochzufahren und den Rucksack abzuwerfen. Aber diesmal ganz oben.
Wahrscheinlich nur die Tatsache, dass sein Vater wirklich Anwalt war.
Whiskey
Gut, dass ich so vergnügungssüchtig bin, denn heute wartet ein aufregender Event auf uns: Eine Fotografin wird erscheinen, um Klassenfotos zu machen. (Wir Lehrer nennen diese Aufnahmen gern «Fahndungsfotos», weil sie oft herangezogen werden, wenn es darum geht, einen Verdächtigen zu identifizieren.)
In der ersten Stunde muss sich Erkan übergeben, und Emre hustet gotterbärmlich. Sie sehen krank und schlecht aus, und ich biete beiden an, nach Hause zu gehen, um sich auszukurieren. Aber zu meiner Verwunderung lehnen sie dieses geradezu einmalige und über die Maßen großzügige Angebot ab.
«Abo, Frl. Krise! Die Fotografin kommt doch!», sagt Emre empört.
Ach! Hatte ich mir etwa kurzfristig eingebildet, sie wollten unter keinen Umständen meinen vorzüglichen Deutschunterricht versäumen?
Vor unserem Shooting müssen wir übertrieben lange vor der Aulatür warten, bis eine andere Klasse fertig ist. Diese Zeit nutzen unsere Mädels, um sich rasch noch fettere rosarote Flecken auf die Wangen zu klecksen, das Lipgloss in weiteren dicken Schichten auf die Lippen zu kleistern und sich gegenseitig mit geübter Hand die Haare so zu verwuscheln, bis sie aussehen wie die Frisuren neurotischer Pudel. Die Jungen halten sich dagegen vorbildlich zurück: Sie tuschen einzig ein wenig Mascara auf die Wimpern und fahren sich mit dem feuchten Zeigefinger über die gezupften Augenbrauen. Und sie betasten immer wieder ihre betonartigen Haare (es ist schon erstaunlich, was die moderne Chemie da leistet), um
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