Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Jetzt muss ich zeigen, was ich von Filiz, Eda und Derya gelernt habe. Ich schichte die Lagen um Frau Freitags Kopf fachgerecht übereinander und stecke alles sorgfältig fest. Aber Frau Freitag ist nicht zufrieden. Nach einer Lachattacke vor dem Spiegel weist sie auf die platte Rückseite ihres Schädels.
«Was das?», fragt sie vorwurfsvoll.
«Ich würde dir ja gerne einen ausladenden Hinterkopf verschaffen», sage ich, «aber womit?»
Bei Frau Freitags dünner Matte kann man das glatt vergessen, aber sie besteht auf einem Hinterkopf.
«Hol mal dicke Wollsocken», weise ich Frau Freitags Freund an, der uns die ganze Zeit ungläubig zusieht.
Das Sockenknäuel stopfe ich ins Unterkopftuch – und fertig! Vor uns steht die neue verschleierte Frau Freitag, sogar mit Hinterkopf. Der Freund trabt im Kreis um sie herum. «Ich glaub es nicht», murmelt er. «Wie sie aussieht!»
«Ich bin Araberin», verkündet Frau Freitag nach einem weiteren Blick in den Spiegel und guckt entschlossen in die Runde.
Inzwischen arbeite ich an meiner eigenen Metamorphose. In kürzester Zeit wird aus Frl. Krise eine türkische Ane, eine türkische Mutter, die ihre besten Zeiten weit hinter sich gelassen hat. Ein dicker schwarzer Mantel gibt ihrer Erscheinung den unschicken Rest. Frau Freitag sieht entschieden flotter aus als ich. Sie trägt Jeans, hochhackige Stiefel und eine kurze, enge Jacke. Außerdem setzt sie sich auch noch eine Sonnenbrille auf. Ich habe meine natürlich vergessen. Ich bin voll neidisch. In diesem Oma-Aufzug soll ich jetzt rausgehen? Niemals!
Wir können auch gar nicht sofort gehen, weil wir einen Lachanfall nach dem anderen haben.
«Wie du aussiehst!», ächzt Frau Freitag, und der Freund argwöhnt, bestimmt sei mein Baba ein waschechter Türke.
Auf der Treppe dann wird Frau Freitag hektisch. «Los, Beeilung! Wenn uns die Nachbarn sehen!», sagt sie kichernd und rast die Treppe runter. In ihrem Haus leben viele Türken. Na und, die würden sich bestimmt freuen, dass wir das Kopftuch genommen haben, denke ich und laufe etwas gebremster hinterher. In meinem neuen Alter muss man sich ein bisschen schonen. Dafür werde ich auf der Straße umso flotter. Hier um die Ecke wohnen Fuat, Gülten und Turgut! Wo ist mein Auto? Das fehlte mir noch, dass mich einer von denen in dieser Kostümierung sieht.
Nichts wie weg! Ich fahre auf einmal schlechter Auto, bilde ich mir ein, nach hinten gucken geht nicht gut, und ich höre auch schlechter. Außerdem wird mir langsam heiß mit dem vielen Stoff um den Kopf. Wo ich doch sonst nicht mal im bittersten Winter eine Mütze trage! Und ich darf auf keinen Fall Frau Freitag angucken, sonst kriege ich gleich wieder einen Lachkrampf.
Wir fahren in die Innenstadt. Ein Glück, dass unsere Schüler sich nicht aus ihrem Kiez heraustrauen, denke ich, als wir über die Einkaufsstraße gehen. Plötzlich steckt sich Frau Freitag eine Zigarette an. Auf der Straße! Das macht eine junge Muslima nicht! Finde ich jedenfalls. Aber Frau Freitag kennt da nix. Die raucht, macht große Schritte, kommt sich schön und toll vor mit ihrem Kopftuch und der schicken Sonnenbrille und schaut jeden Passanten kriegerisch an. Ich hingegen fühle mich unattraktiv und glanzlos, so wie eine abgekämpfte Mutter von acht bis neun Kindern, und schluffe schwitzend hinter ihr her.
Eigentlich beachtet uns kein Mensch, stellen wir fest, obwohl wir wirklich weit und breit die einzigen Frauen mit Kopftuch sind.
Wir fallen in eine Bücherei ein, und ich überlege, ob ich mir das Buch Die große Verschleierung von Alice Schwarzer kaufen soll. Aber Frau Freitag rät mir lautstark davon ab. Hier gibt es auch ein kleines Café; wir trinken eine Cola und tuscheln über den Mann am Nebentisch, der liest nämlich das Buch Der Untergang der islamischen Welt . Der tut einfach so, als ob wir nicht da wären. Tssss. Am liebsten würde ich ihn ansprechen: «Ist nicht gut, Buch nicht lesen …» Aber ich trau mich nicht.
Dann fotografieren wir uns mit unseren Handys, ein Foto schicke ich an meine Töchter. Die rufen gleich an, kriegen sich vor Vergnügen nicht mehr ein und erkundigen sich nach unserem «geistlichen» Gesundheitszustand.
Zum Abschluss gehen Frau Freitag und ich noch in einen großen Klamottenladen. Allerdings kämpfe ich inzwischen mit der unerträglichen Hitze, die sich besonders um meinen Hals herum breitgemacht hat. Von wegen: «Mir ist nicht heiß!», wie meine Schüler immer behaupten! Ich transpiriere, als
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