Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Einzige an der royalen Verlobung drangeblieben ist.
«Die Kanzlerin bezahlt nich. Niemals!», behauptet Ömür.
«Hä? Muss Frau Merkel den Ring bezahlen?» Hanna ist verwirrt.
«Schluss, Schluss. Bitte … ach … hallo …» Ich versuche es ein letztes Mal, obwohl es völlig sinnlos ist. Nun geht ja wohl gar nichts mehr. Sollte Zeitunglesen tatsächlich eine völlig überschätzte Freizeitbeschäftigung sein?
«Frl. Krise, ich kann nich mehr», unterbricht mich Musti. «Wann klingelt’s denn endlich? Mein Kopf ist wie ausgelöffelt!»
Lies dieses Buch, Marco!
Ach, das Lesen, das ist auch so eine unendliche Geschichte ohne Happy End …
In meinen ersten Dienstjahren war ich richtig entsetzt, wie wenig die Schüler lasen. Dabei hatten die Kinder damals, ohne Computer, noch so viel Zeit dafür. Im Laufe meiner Dienstjahre gewöhnte ich mich daran, konnte mich aber nie damit abfinden. Mein Kampf gegen die Leseunlust ging über viele Runden. Hier nur eine davon:
Meine Schüler brauchen ein Erfolgserlebnis, überlegte ich. Sie sollten spüren, wie viel Spaß Lesen macht! Deshalb musste ich sie dazu bringen, ohne Zwang zu lesen.
Also las ich meiner siebten Hauptschulklasse eine lange Geschichte vor. Das mochten die Schüler. Sie legten ihre Köpfe auf die Arme ab und verfielen in einen lauen Dämmerzustand. Die Geschichte schleppte sich zunächst so dahin und nahm dann langsam an Fahrt auf. Mein Plan war, an der spannendsten Stelle das Vorlesen abzubrechen. Bestimmt werden sie alleine weiterlesen, dachte ich pädagogisch wertvoll und leicht naiv. Sie wollen garantiert wissen, wie es weitergeht. Ich freute mich schon im Voraus.
Um es gleich zu sagen: Der Plan misslang. Fast kein Kind fand die Geschichte so unerhört spannend, dass es freiwillig weiterlas.
« Sie haben das bestimmt schon fertig gelesen», vermutete die schlaue Wanda. «Da können Sie uns doch sagen, wie es ausgeht!»
Ich war ein bisschen geknickt, aber ich überlegte mir etwas Neues: Kurz vor den Herbstferien teilte ich Bücher aus. Die Schüler schrien entsetzt auf. «Sagen Sie nicht, dass wir die in den Ferien lesen sollen», empörte sich Marco und guckte sein Buch an, als wäre es ein giftiges Insekt.
«Auf keinen Fall! Ich verbiete euch sogar, das alleine zu lesen.»
«Wieso das denn? Das dürfen Sie gar nicht!» Nicole war wie immer auf Widerspruch gebürstet.
«Hm … äh …», stotterte ich gekonnt. «Es ist besser, wir lesen das zusammen, glaube mir!»
Einige begannen sofort, das Buch neugierig durchzublättern. Es funktioniert, dachte ich und triumphierte.
«Und was passiert, wenn ich es doch lese?», erkundigte sich Marco.
«Nein, das verbiete ich dir! Du liest es einfach nicht. Punkt!», sagte ich energisch.
Vielleicht etwas zu energisch.
Ausnahmsweise haben alle gehorcht.
An dem Tag, an dem Marco aus der Schule entlassen wurde, gab er mir noch ein paar gute Ratschläge für meine Zukunft mit auf den Weg: «Frl. Krise, echt mal. Sie sind zu nett. Sie müssen strenger werden. Sie haben uns viel zu viel geglaubt! Damals, auf der Klassenfahrt in Würzburg zum Beispiel, hatten wir Schnaps dabei! Wodka! Und Sie dachten, das wäre Limo! Und Sie haben immer gesagt, schön, dass die Mädchen nicht rauchen. Aber dabei rauchen die fast alle! Und wissen Sie noch? Ganz früher? Damals mit dem Buch? Das wir nicht lesen durften? Ganz viele haben das gelesen. Heimlich. Warum sollten wir das eigentlich nicht lesen?»
Ich habe es ihm verraten.
Er war sehr überrascht.
Vielleicht liest er ja mal dieses Buch hier … Aber ich fürchte, die Chancen stehen schlecht.
Der Fortschritt ist eine Schnecke
Eine deutsche Schülerin aus dem zehnten Schuljahr ist schwanger. Sie hat schon einen richtigen Baby-Bauch und ist für Gülten ein willkommener Gesprächsanknüpfungspunkt auf dem Schulhof.
«Frl. Krise, haben Sie gesehen? Das Mädchen aus der Zehn? Die ist schwanger! Abooo … voll schlimm!», sagt sie mit dramatischem Augenaufschlag.
Ich habe Aufsicht, friere so vor mich hin und bin eigentlich dankbar für jede Ablenkung.
Aber bloß nicht dieses Thema wieder. Gleich wird sie mit ihrer ominösen «Ehre» kommen, auf die die ganze Familie aufpassen muss, damit sie nicht verloren geht! (Auch in Ethik ein «Lieblingsthema» – aber nicht von mir.)
«Schwanger? Schlimm? Nee, schwierig», sage ich bestimmt.
«Ist doch voll schlimm, die hat jetzt keine Ehre mehr!», erklärt Gülten im Brustton der Überzeugung.
«Ich finde das
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