Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Mädchen wird aber jetzt nicht als Hexe verbrannt», sagt Nesrin zufrieden.
«Vallah, aber sie kriegt voll Ärger», weiß Necla. «Ihr Vater wird soooo schlagen!»
«Und wenn sie mit ihren Freund richtig was macht, bringt ihr Bruder ihr um», meint Hülya drohend.
«Das glaub ich nicht», bemerkt Jenny, die einzige Nicht-Muslima des Kurses, die leider nie irgendwas vom Weltgeschehen mitkriegt.
Ali schaltet sich ein: «Jaaaa, aber dann man muss sie umbringen, die Ehre der Familie …»
Ich versuche zu Wort zu kommen, aber alle schreien schon wieder durcheinander, und schließlich erzählt Hülya Jenny relativ sachlich noch einmal die Geschichte von Hatun Sürücü, die 2005 von ihrem Bruder wegen ihres unabhängigen Lebenswandels erstochen wurde. Sie sagt natürlich nicht «unabhängig», sondern «schlecht».
Die Gruppe ist für einen Moment still. Alle sind betroffen.
Da ruft Ali: «Ja, sie hatte aber auch Nacktfotos gemacht, und sie hatte Männer!»
«Ach so, na, dann!»
«Abooo … Nacktfotos, dann musste er machen!»
«Sie hat voll die Ehre verletzt, er musste …»
«Voll haram, geht gar nicht, die Familie musste sie …»
Die Mädchen nicken sich zu. Wenn das so war … Nein, der Familie blieb nichts anderes übrig! Hatun hat ihre Eltern schließlich voll traurig gemacht, die Ehre der Familie in den Dreck gezogen, ja, sie ist sogar schuld daran, dass ihre Eltern jetzt um sie trauern müssen und dass der Bruder im Knast ist.
Immer mal wieder gerate ich mit meinen Schülern an diesen Punkt. Wir haben schon viel versucht: Hilfe von Hodschas geholt, polizeiliche Beratung genossen, islamische Berater eingeschaltet. Es nützt nichts, nein, gar nichts. Was geht in diesen Familien vor sich? Wie erziehen sie ihre Kinder? Wie weit lassen sich die Mädchen wirklich auf all diese Ge- und Verbote ein? Welche Rolle spielt die Religion? Welche Rolle die Abgrenzung zu «uns»?
«In den letzten zwei Jahren wurden in Deutschland an die fünfzig Frauen von ihrer Familie umgebracht, so wie Hatun», sage ich.
Necla antwortet ungerührt: «Mehr nich? Ist doch nicht viel in zwei Jahren …»
Da sitzen sie vor mir, zehn hübsche junge fünfzehnjährige Mädchen, schick angezogen im H&M-Look, mit engen Klamotten, hochhackigen Stiefelchen, geschminkt und mit Modeschmuck beklunkert (nur ein Mädchen trägt Kopftuch). Die Jungen sind nie als besondere Machos in Erscheinung getreten.
Keins der Mädchen ist auf den Mund gefallen, sie lassen sich in der Schule von nichts und niemandem die Butter vom Brot nehmen, und sie pochen auf Recht und Gerechtigkeit. Ihr Verhalten ist oft unerzogen und grenzüberschreitend, aber sie haben auch Charme und Witz und belohnen freundliches Entgegenkommen und Großzügigkeit meinerseits mit Zuneigung und Anhänglichkeit. Wir mögen uns.
Aber hier, an dieser Stelle ist eine Grenze.
Genau hier.
Wir kuscheln
Heute war es ganz friedlich. Wir hatten einen Projekttag, deshalb waren Karl und ich den ganzen Morgen zusammen in unserer Klasse. Die Schüler haben betont relaxt in kleinen Gruppen an verschiedenen Themen gearbeitet, wobei sie es geschickt vermieden, in die Nähe von Stress zu geraten.
Turgut kam mit gut einer Stunde Verspätung, aber dafür wenigstens ohne jedes Schulzeug. Ich glaube, er betrachtet die Schule als so eine Art Wärmestube. Er wohnt ja nur fünf Minuten weit weg, und so konnte er gleich wieder umkehren, um seinen Kram zu holen. Aber er ward nicht mehr gesehen.
Sonst gab es keine Vorfälle.
Ich habe endlich mal so zwischendurch in Ruhe das Pult und den Schrank aufgeräumt, es reicht ja, wenn man zu Hause keine Ordnung in die Bude kriegt. Nesrin hat mir geholfen, sie hatte «voll Kopfweh» und konnte nicht schreiben.
«Super! Wie ordentlich das jetzt ist.» Zufrieden betrachte ich unser Werk.
«Ja, wa? Weil ich Ihnen geholfen habe», sagt Nesrin strahlend und drückt mich kurz.
Die Mädchen sind seit dem Praktikum ziemlich anhänglich, denke ich. Neuerdings legen sie großen Wert darauf, mich ausführlich zu begrüßen, und sie suchen auch immer wieder Körperkontakt. Mir soll’s recht sein! Ich freue mich über jede positive Regung.
Karl hängt gerade die Weihnachtsbeleuchtung in die hohen Fenster (Alle: «Ahhhh» und «Ooohhhhh, voll schöööööön!»), wobei er aussieht, als wolle er die Eigernordwand erklimmen. Es müssen gleich ein paar Fotos mit dem Handy gemacht werden – ausnahmsweise – und von mir dann überflüssigerweise auch noch,
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