Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
auch nicht gut, dass sie schwanger ist, Gülten. Aber nicht wegen der Ehre. Ich frage mich, ob man mit sechzehn Jahren das schon alles alleine schaffen kann mit einem Baby. Ich hoffe, ihre Eltern helfen ihr.»
Gülten schüttelt den Kopf. Um das Baby macht sie sich keine Gedanken, aber das Mädchen ist ruiniert. Das steht fest, jedenfalls in ihrer Welt.
«Wissen Sie, wie voll schlimm das bei uns ist, wenn ein Mädchen vor der Ehe …? Mädchen sind Ehre der Familie! Vallah, sie hat Ehre der Familie beschmutzt!»
Ich rege mich innerlich auf. Gülten ist ein aufgewecktes, bildhübsches Mädchen, ihre Mutter ist eine flotte Person, die gut Deutsch spricht, die Eltern arbeiten beide, die Familie ist bestens integriert – und doch …
«Und die Jungen sind wohl nicht Ehre der Familie?», frage ich rein rhetorisch. Natürlich kenne ich die Antwort, ich weiß, was jetzt kommt.
«Bei den Jungen ist das was anderes. Die dürfen das auch nicht. Aber bei denen sieht man das ja nicht. Und wenn sie gut heiraten, ist alles wieder in Ordnung.»
«Ja», sage ich, «super! Das kann ja wohl nicht sein? Allah sieht das nicht, oder? Der sieht das nur bei den Mädchen!»
Aynur hat sich inzwischen zu uns gestellt. Sie ist eine wilde Hummel, die sich gar nichts sagen lässt, aber wenn es um die Familienehre geht, ist sie auf einmal ganz angepasst.
«Guck ma, Frl. Krise», unterbricht sie mich. «Das ist bei uns so! Das verstehen Sie nicht! Wenn Mädchen Familienehre beschmutzt, sehen alle, dass ihr Vater sich nicht durchsetzen kann. Vallah, er muss ihr verbieten!»
«Und wenn ein Sohn kriminell wird? Du erinnerst dich doch an den Raubüberfall neulich. An dem der ehemalige Schüler von uns dabei war. Baris! Der muss jetzt für zwei Jahre in den Knast. Da hat sich der Vater wohl auch nicht durchsetzen können! So eine Tat ist doch schlimm für die Familie.»
Die beiden sehen mich an, als wäre ich «geistlich behindert», wie Fuat das nennen würde.
«Nicht so schlimm wie … vor der Ehe», sagt Aynur, hebt eine Augenbraue und sieht mich bedeutungsvoll an.
«Nein, nicht so schlimm», echot Gülten. «Der Junge geht Knast. Wenn er rauskommt, ist es wieder gut. Ist er sauber, hat er Strafe gehabt.»
«Aber Ehre von Mädchen kann man nicht mehr gut machen», bekräftigt Aynur und tritt mal kurz nach Fuat, der gerade langsam vorbeischleicht. Er hört bestimmt zu.
«Also wirklich, so was darf man sich doch nicht gefallen lassen», protestiere ich lahm. Wie oft haben wir schon darüber gesprochen, und es ist ganz schön schwierig, gegen diese Betonfraktion zu argumentieren. Laut tröste ich mich: «Das wird sich aber noch ändern, war ja früher in Deutschland auch so. Ist noch gar nicht so lange her! (War genau genommen im vergangenen Jahrtausend, aber das sag ich nicht!) Als ich Schülerin war, gab es an meiner Schule auch eine Schülerin, die schwanger wurde. Die flog mitten in der zehnten Klasse von der Schule.»
«Von der Schule geflogen?» Gülten und Aynur sind entrüstet. «Warum das denn? Voll krass! Konnte die nicht mehr Abschluss machen?»
«Nein», sage ich. «Wenn eine Frau damals ein uneheliches Kind bekam, also ein Kind, ohne verheiratet zu sein, galt das als sehr schlimm. Natürlich hat ihre Familie sie nicht verstoßen. Aber in der Schule sollten wir braven Schülerinnen mit so jemandem nichts zu tun haben.»
«Unmöglich», empört sich Gülten und boxt jetzt nach Fuat, der uns abermals umkreist. «Komische Schule! War das Gymnasiumschule? Kann das Mädchen doch ruhig Schule gehen, stört doch keinen!»
«Ja, und kein Abschluss! Die Arme! Kann sie nie Ausbildung bekommen! Voll gemein!», sagt Aynur.
Ach, sollte das vielleicht schon der Fortschritt sein? Immerhin!
Und doch! Manchmal ist es echt zum Verzweifeln …
«Beim ersten Mal wird man nicht schwanger!»
An der Geburt von Vanessa fühle ich mich mitschuldig. Da war ich nämlich zu spät dran. Mit der Unterrichtseinheit «Sexualität und Verhütung», meine ich.
Ich hatte dieses Thema ein bisschen vor mir hergeschoben. Aber nur zwei, drei Monate. Und ich hatte auch einen guten Grund, denn alles, was mit Sexualität zu tun hatte, verschaffte zwar hohe Aufmerksamkeitswerte – damals wie heute übrigens auch –, verursachte aber ebenso grässliche Störungen. Und an denen fehlte es in meiner ersten Hauptschulklasse, Mitte der Siebziger, ohnehin wirklich nicht.
Aber nun musste es endlich sein, schließlich würde die Schulzeit der neunten Klasse
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