Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
drei Wochen, zwei im Dezember und eine im Januar.» Zum zigsten Male schreibe ich die Daten an die Tafel. Alle kreischen auf. «Jenny, wie willst du eigentlich in drei Wochen elf Fünfen wegbekommen?», erkundige ich mich weiter.
Jenny ist sitzengeblieben, sie könnte im Januar eine kleine Prüfung machen, um nachträglich versetzt zu werden. Aber mit so vielen Fünfen wird sie zur Prüfung nicht zugelassen. Dabei rechnet sie fest mit ihrer Nachversetzung – man fragt sich, wieso.
Jenny lacht gerade laut und klatscht sich mit Hanna ab, die halb auf dem Tisch liegt und dabei alle ihre Sachen zu Boden befördert. Ich lege wortlos die Notenliste auf den leeren Tisch vor sie hin.
«Aboooo», schreit Jenny, «voll gemein, alles Fünfen. Scheiße! Mathe Sechs! Ich hab mich verbessert, wieso hab ich Sechs?»
Auch die anderen studieren nun die Listen. Allergrößtes Erstaunen. Vallah, wo kommen all die schlechten Noten her? Man könnte fast glauben, wir hätten nicht schon massenhaft Arbeiten geschrieben und wir würden nicht ständig, auch mit jedem Einzelnen, reden.
Rahim zieht mich in eine Ecke. Er beginnt zu weinen.
«Aber Rahim», sage ich, «du weißt doch schon die ganze Zeit, wie du stehst.»
«Aber ich könnte mich noch verbessern», schluchzt er. «Ich dachte … bis … bis … Februar ist noch … ist noch lang.» Er sieht mich mit großen, erschreckten Augen an.
«Genau drei Wochen hast du noch», sage ich und zeige zum hundertsten Mal auf den Zeitstrang, den wir vor Wochen an die Wand gehängt haben, um den Schülern zu verdeutlichen, wo wir zeitlich stehen.
Ich könnte schwören, Rahim sieht ihn zum ersten Mal mit Bewusstsein an.
«Aber mein Vater schlä…hägt mich tot. Bitte, bitte, Frl. Krise, können Sie nicht den Lehrer sagen, sie sollen mir Vier geben. Ich lerne dann auch, ich änder mich, ich schwör auf meine Mutter!»
«Rahim, niemand gibt dir jetzt einfach eine Vier, das weißt du doch.»
Er jammert: «Ich schwöre, ich schwöre!»
Karl ist in ähnliche Gespräche verstrickt.
Es ist wie jedes Jahr. Kurz vor den Zeugnissen kommt die Erkenntnis, das Staunen, das Wutgeschrei, die Reue, das Flehen, es kommen die Tränen, die Flüche, die Drohungen, das Winseln, die guten Vorsätze.
Die Einsicht? Nein, die kommt nicht. Noch nicht?
In der letzten Stunde haben wir Ethik. Die Klasse ist ein bisschen gedämpft, aber in keiner Weise konzentriert. Erst als ich Hanna, Jenny und Leila, die nicht ruhig werden, nach nebenan in unseren zweiten Raum gesetzt habe, können wir arbeiten, sogar ganz gut arbeiten, etwa fünfundzwanzig Minuten lang.
Am Ende sind fast alle mit sich zufrieden.
«Hab ich schön mitgemacht! Die Fünf in Ethik ist jetzt schon mal weg. Wa, Frl. Krise?», fragt mich Erkan und knallt seinen Stuhl auf den Tisch.
Love und Crime
«Was ist eigentlich los mit dir?», frage ich Mustafa, der normalerweise durch Anwesenheit, gute Manieren und angenehmes Wesen glänzt. Er ist neuerdings blass, und er wird immer dünner, was nicht nur daran liegen kann, dass er in letzter Zeit stark gewachsen ist. Er schleicht alleine über den Schulhof und isst nicht mal mehr seinen obligatorischen trockenen Chinasuppenextrakt. Jetzt sieht er mich hohläugig an und zuckt mit den Schultern.
«Hm, lass mich raten», sage ich. «Liebeskummer!»
Touché!
Musti erzählt mir die traurige Geschichte einer großen Liebe. Ein paar Wochen waren sie erst zusammen, dann hat sie ihm den Laufpass gegeben. Schrecklich … wegen eines anderen, was sonst. Voll gemein!
«Kenne ich sie?», frage ich teilnahmsvoll.
«Ja.» Er nickt. «Sie ist in der 8c. Yvonne.»
Yvonne! Ich bin ein bisschen enttäuscht. Na, was der wohl an dieser grauen Maus findet …
Zwei Tage später sause ich gerade in der kleinen Pause ohne Mantel durchs Schneegestöber von einem Gebäude zum anderen, da werde ich von Mustafas Eltern ausgebremst. Ohne Termin? Ich habe Unterricht! Aber sie halten mich fest und berichten mir aufgebracht, dass ihr Sohn Tag und Nacht von irgendwelchen schulfremden Typen angerufen und bedroht wird.
Hm, unschön, aber was habe ich damit zu tun?
«Diese Typen sind Freunde von Yvonne», erklärt der Vater. «Yvonne … Sie wissen schon, diese … äh … na, sagen wir mal … Kinderliebe.»
Ich falle aus allen Wolken.
«Das kann ich mir gar nicht vorstellen», sage ich. «Das Mädchen ist sehr nett und gut erzogen.»
Aber die Eltern zeigen mir eine SMS: «fingerweg von yvonne sonst mach ich dich
Weitere Kostenlose Bücher