Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
schon in einem halben Jahr vorbei sein. Gerade wollte ich mit dem Biologieunterricht beginnen, als Kerstin ein bisschen verspätet hereinstürzte. Kerstin war ein anstrengendes Mädchen, sehr burschikos, ziemlich unerzogen und immer eine der Wortführerinnen. Wer es nicht mit ihr konnte, hatte schlechte Karten in der Klasse.
«Entschuldigung, Frl. Krise, ich war noch beim Arzt», sagte sie atemlos und sah mich schräg an. «Hier!» Damit schob sie mir langsam einen weißen Zettel über das Pult zu.
«Befreiung vom Sportunterricht», las ich auf ihm, und «Gravidität».
Kerstin sah angelegentlich auf den Boden, und mir stockte der Atem. Schweigend faltete ich den Zettel zusammen und ließ ihn in meiner Hosentasche verschwinden.
Später sprachen wir über ihre Schwangerschaft.
«Aber habt ihr denn nicht verhütet?», fragte ich.
«Nein, haben wir nicht!», sagte Kerstin trotzig und sah aus dem Fenster.
«Aber warum denn nicht, Kerstin?» Ich war ein bisschen fassungslos.
«Na, Robert … also mein Freund und ich, wir dachten, beim ersten Mal wird man nicht schwanger.»
Klassisch! Beim ersten Mal! Ich hätte mich ohrfeigen können. Wenn ich doch nur vor zwei Monaten …
«Und … äh …» Ich zögerte. «Du bist ja noch sehr jung, Kerstin, habt ihr vielleicht mal darüber nachgedacht, ob …»
«Meinen Sie Abtreibung? Nee, Frl. Krise! Das will ich nicht! Meine Mama hilft uns, hat sie schon versprochen.» Kerstin sprang auf und legte eine Hand auf ihren flachen Bauch.
Sie ging dann doch noch mit ihrer Freundin zu pro familia, um sich über einen Abbruch zu informieren, kam aber unberaten wieder. «Da war es voll schmutzig, und überall hingen so komische Plakate. Ach nee, da wollten wir nicht bleiben, da hat’s uns nicht gefallen!»
Kerstin schaffte gerade ihren Hauptschulabschluss, bevor sie in Mutterschutz ging. Immerhin. Das Zeugnis war allerdings schlecht, Schule und Unterricht hatten sie nicht mehr interessiert.
Dafür erblickte bald darauf Baby Vanessa das Licht der Welt. Die junge Familie wohnte in der Nähe der Schule in einer winzigen Dachgeschosswohnung, in dem Haus, in dem auch Kerstins Mama lebte. Alles war gut organisiert, und Kerstin und Robert waren rührende Eltern, zwei große Kinder mit einem kleinen Kind.
Manchmal traf ich Kerstin in den nächsten Jahren auf der Straße, aber nach der Trennung von Robert schien sie fortgezogen zu sein.
Dann – Jahre später.
Ich bekam ein neues fünftes Schuljahr. Der erste Schultag war wie immer ein spannender Moment. Während der kleinen Aufnahmefeier in der Aula überflog ich die Gesichter und blieb an einem hängen: Kerstin!
Sie winkte mir zu und zeigte auf das Mädchen, das neben ihr saß. Das musste Vanessa sein! Ich konnte es nicht fassen. Elf Jahre waren vergangen!
Kerstin war mit einem neuen Mann verheiratet, sie hatte noch einen Sohn bekommen, arbeitete als Putzhilfe und wohnte wieder in der Nähe der Mama. Die passte auf den Sohn auf, genauso wie damals auf Vanessa. Kerstin lachte so laut wie früher und sah für ihre siebenundzwanzig Jahre ziemlich fertig aus.
«Super, Frl. Krise», sagte sie, «find ich gut, dass Sie jetzt auch noch Nessies Klassenlehrerin werden.»
Ich freute mich, aber ich mochte nicht darüber nachdenken, dass ich jetzt schon die zweite Generation unterrichtete.
Wenige Jahre später wechselte ich die Schule. Wie ich hörte, wurde Vanessa schon sehr jung Mutter. Die dritte Generation! Knapp verpasst.
Jenseits der Grenze
Heute hat der komplette Theaterkurs versucht, mich davon zu überzeugen, dass ein Ehrenmord (ein unmöglicher Begriff!) völlig okay ist. Schließlich geht es um die Ehre .
Ja, nur bin ich leider zu vernagelt, um das einzusehen. Aber kein Wunder, ich kann das ja auch nicht verstehen, ich bin ja auch keine Muslima …
Wo leben wir denn? Sind wir im 3. Jahrtausend n.Chr. oder irgendwo hängengeblieben zwischen den Zeiten?
Ich muss mal chronologisch vorgehen.
Theaterkurs: Wir suchen nach biographischem Material, um daraus zwei oder drei kleine Szenen für unser historisches Stück zu erarbeiten, in dem eine junge Frau nach einer Verleumdung als Hexe verurteilt wird. Die zehn Mädchen und zwei Jungen erzählen unter anderem eine Begebenheit, in der es um üble Nachrede ging: Einem muslimischen Mädchen wurde nachgesagt, es habe etwas mit einem Jungen gehabt. Das Mädchen wurde daraufhin von ihren Eltern einige Wochen nicht in den Unterricht gelassen, angeblich war sie krank.
«Na,
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