Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Rollläden sind heruntergelassen, und ich stürze im Dunkeln über irgendeine Tasche, die mitten im Weg liegt. Kerzen, wir haben Kerzen vergessen! Nesrin findet glücklicherweise Teelichter vom letzten Jahr im aufgeräumten Klassenschrank. Es wird richtig gemütlich.
Ich staune immer wieder, was Pubertierende für unglaubliche Mengen verdrücken können, und das in rasender Geschwindigkeit. Der Bulgursalat von Nesrims Ane ist aber auch Grimme-Preis-verdächtig. Der türkische Kartoffelsalat dagegen zeichnet sich durch zu viel Mayonnaise aus, jedenfalls für meinen Geschmack.
Sam plant laut, während er ein Brötchen quer reinschiebt, nächstes Jahr zur Abwechslung eine Mikrowelle mitzubringen, dann könnte man endlich mal Chinapfanne und Frühlingsrollen anbieten. Sams Eltern stammen aus China und betreiben ein kleines Restaurant. Sam ist der Stillste in unserer Klasse, so viel wie heute hat er lange nicht geredet. Und Ömür, der offensichtlich von allen Diäten Abschied genommen hat, klopft sich satt und zufrieden auf seine kleine Wampe. (Die letzten zwei Tage hat er gefehlt – wie üblich: Bauchschmerzen).
Dann der Höhepunkt: Gülten verteilt unter großem Applaus die Geschenke. Sie scheint die Aktion mehr als eine Art Lotterie aufzufassen und gratuliert jedem zu seinem Geschenk.
Unerträglicher Parfumgeruch macht sich breit, ich muss sofort ein Fenster aufreißen, um eine beginnende Kopfschmerzattacke abzuwenden. Gleichzeitig werde ich von Nesrin eingenebelt: «Riech mal, Frl. Krise, Esprit, voll geil, wa!»
Mein Geschenk – es ist von Azzize –, Stifte und ein Stiftebecher, sind geruchsneutral, was ich sehr begrüße. Die Geschenke wandern herum. Natürlich hat sich keiner an die verabredete Fünf-Euro-Grenze gehalten – ich auch nicht.
Wieso haben sich Ömür und Emre keinen Döner geschenkt wie letztes Jahr? Vallah, was das? Wochenlang haben sie von nichts anderem geredet, irgendwie schade …
Am Ende geht sogar das Aufräumen halbwegs gesittet über die Bühne. Übrigens werden die leeren Flaschen nicht etwa mitgenommen – sich das Flaschenpfand zu holen gilt bei unseren Schülern als voll uncool.
Und als endlich alle mit vielen «Tschüßßßßßßiiiiiiiiiis» und «Schöne Feeeeeerien» und «Guten Rutsch» und Küsschen rechtslinksrechts raus sind, setzen Karl und ich uns noch einen Moment hin.
«Ich kehre gleich», sagt Karl.
«War aber voll nett, oder?», sage ich, und dann sagen wir beide wie aus einem Munde: «Gott sei Dank, FERIEN»!
Weihnachtliche Krise
«Weil du jetzt schon seit genau dreißig Jahren an unserer Schule bist!», sagte unser Schulleiter und überreichte meiner Kollegin Heidi galant eine gelbe Rose. Dieser Satz ging mir in den nächsten Wochen immer wieder durch den Kopf. Es muss doch einfachere Methoden geben, mit einer Rose bedacht zu werden, als sein ganzes Leben an einer Schule zu bleiben, überlegte ich mir, und: Oh Gott, ich bin auch schon seit zwanzig Jahren hier an der Gesamtschule-Süd! Zuerst das Referendariat und dann nicht mal ein Schulwechsel! Langweiliger geht’s ja wohl nicht mehr!
Unbewusst wartete ich vielleicht zu diesem Zeitpunkt nur noch auf einen Schubs, der mich in Bewegung setzen würde.
Es war der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien. Ich dekorierte mit meinen Schülern unseren Klassenraum für die Weihnachtsfeier. «Ich hänge die Kugeln dahin», verkündete Pascal und wedelte mit dem Karton in Richtung Fenster. Leider hielt er den Karton falsch herum, und schon lagen meine schönen Weihnachtskugeln in Form von tausend Scherben auf dem Boden. Das störte aber niemanden: Die Mädchen hatten sich vor dem Unterricht gezankt und waren immer noch mit Diskussionen à la «Da habe ich gesagt und da hat er gesagt» beschäftigt. Die Jungen kickten zwei leere Trinkpäckchen durch die Gegend. Außerdem lachten sie über Pascal, der nun, anstatt die Scherben wegzufegen, auf dem Besenstiel durch die Klasse ritt. Ich schmückte, leicht verbittert, die Tische mit Tannengrün und Kerzen und schnitt meinen Stollen in Scheiben. Sonja und Diana gaben vor zu helfen, naschten aber eigentlich nur die besten Plätzchen von den Weihnachtstellern weg. Dann entriss Marco Pascal den Besen und vollführte mit dem Stiel wilde Ehestandsbewegungen, und die Jungen rissen zotige Witze, und die Mädchen kreischten um die Wette.
«Iiiehh, nicht den von der Krise!» Tina wies meinen Stollen angeekelt zurück, und Manfred tat, als ob er gleich kotzen
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