Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Schulrucksack noch einen schwarzen Koffer mit sich herum, der entfernt an einen Geigenkasten erinnerte. Offensichtlich hing er sehr an seinem Instrument, denn er ließ den komischen Kasten nie unbeaufsichtigt. Wir rätselten, was dadrin sein könnte, eine Geige, eine kleine Gitarre oder eine Ukulele? Manni hielt sich dazu bedeckt.
«Die Fragerei ist ihm peinlich», sagte ich zu Edda, und: «Vielleicht steckt doch mehr in dem Jungen, als wir vermuten.»
Edda wiegte bedenklich ihr Haupt, und sie sollte recht behalten. Eines Tages nämlich erschien die Polizei in der Gesamtschule-Süd und lüftete das Geheimnis. Einen stabilen Bolzenschneider schleppte Manni mit sich im Geigenkoffer herum! Wie praktisch!
Wenn er zu faul war zu laufen, knackte er damit rasch ein Fahrradschloss. Mit dem «geliehenen» Rad kam er dann gerade noch pünktlich zu seinen geliebten Talkshows zu Hause an.
Da soll noch einer sagen, Fernsehen mache unkreativ!
Nesrin hat Fragen
«Meine Eltern verstehen mich nicht!» Nesrin ist empört.
Und ich bin erstaunt. Solche Sätze aus dem Mund meiner Schüler kenne ich nicht.
Das, was deutsche Pubertierende nicht müde werden durchzufechten, scheint nämlich in Familien mit Migrationshintergrund keine große Rolle zu spielen: Die Rebellion der Heranwachsenden gegen die Konventionen der Eltern. Die Ablösung, das Selbständigwerden in der Pubertät. Findet das überhaupt statt?
Die Jungen in meiner Klasse machen ohnehin mehr oder weniger, was sie wollen, und viele Mädchen werden gerade in der Pubertät immer fester in einen familiären Kokon eingesponnen, aus dem sie sich kaum befreien können. Das Credo meiner Schüler ist normalerweise der Satz: «Meine Familie ist das Wichtigste in meinem Leben. Ich liebe meine Mutter, sie ist das Höchste für mich …» Eine seltsame Mischung aus Zuneigung, Abhängigkeit und Kitsch. Ja, Kitsch, denn die Theatralik, die dramatische Gestik und Mimik, die mit diesen Sätzen verbunden sind, hebt sich von den alltäglichen Meinungsbekundungen deutlich ab: Hand aufs Herz, Augenrollen, süßlicher Tonfall …
Nesrin kommt in Fahrt. «Hallo? Meine Mutter ist wie eine Freundin, sagt sie! Ich soll alles erzählen. Aber wenn ich mache, gibt es voll Ärger!» Die anderen nicken. «Und sie weiß gar nicht, wie es in Schule ist. Ich sage immer zu meiner Mutter, ist nicht mehr wie früher, ich benehme mich in Schule wie zu Hause.» Das war ja mal ein wertvoller Hinweis. Die Eltern beteuern nämlich gern in Gesprächen, dass die Kinder zu Hause völlig unproblematisch sind.
Nesrin sagt: «Meine Eltern vertrauen mir nicht. Warum nicht? Ich mache nichts Schlechtes. Aber immer denken sie, ich will was Schlechtes machen.»
«Was meinst du denn mit ‹was Schlechtes›?», frage ich nach.
«Keine Ahnung, was mit Jungen oder so. Aber mach ich nicht. Wissen die doch auch.»
Wenn aber Jenny und Hanna sagen: «Dürft ihr nie abends weg? Am Wochenende auch nicht? Voll gemein!», bildet sich gleich eine Phalanx mit dem Tenor: «Wir wollen gar nicht weg. Ich will gar nicht in die Disco. Wir gehen ja weg, zu Hochzeit oder Verwandten.»
Sind das saure Trauben? Jenny und Hanna gehen übrigens auch nicht in die Disco, sie hängen nur in Jugendclubs ab oder auf der Straße herum.
Nesrin berichtet dann von Schwierigkeiten mit den Eltern, und sie stellt mir Fragen: «Wie war das denn bei Ihren Töchtern?» Sichtlich sucht sie nach einem Modell, das sie vielleicht mit dem ihrer Eltern vergleichen kann.
Ich erzähle ein bisschen von meinen Töchtern. Von den üblichen Streitigkeiten, dem Ver- und Aushandeln, den mütterlichen Sorgen, den Schulproblemen und dass eine meiner beiden Töchter kurz vor dem Abitur von zu Hause ausgezogen sei. Alle sind entrüstet.
Besonders Nesrin. Dass ich das erlaubt habe! Frl. Krise – sehr schlechte Ane!
Ich sage, nein, keine schlechte Ane! Es wäre mir auch nicht leichtgefallen, aber immerhin sei es für unsere Beziehung besser gewesen.
Doch das geht zu weit. Außer Jenny und Hanna sind sich alle darin einig. Nesrin guckt mich streng an. «Frl. Krise! Und Sie sind nicht verheiratet, stimmt’s?»
«Sie ist geschieden und hat ihren neuen Mann schon ganz lange, das weißt du doch», sagt Aynur ungeduldig.
«Warum soll sie denn andauernd heiraten?», verteidigt mich Emre.
«Ihr Deutschen macht das alles mit den Kindern und dem Heiraten so … so … so … wie ihr wollt», stellt Nesrin kopfschüttelnd fest.
Ich verschlucke meinen Standardsatz
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