Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
unter mittellautem Gequatsche vor sich hin. Es könnte so schön sein …
Da kommt Turgut, baut sich vor mir auf und stößt ein Wort hervor: «Blatt!»
«Was willst du, Turgut? Sprich mal im Satz zu mir!»
«Mein Blatt!»
«Es sind alle Blätter ausgeteilt. Wenn deins nicht dabei ist, hast du keins abgegeben.» Ich wühle ein bisschen in den leeren Blättern vor mir herum. Reine Übersprunghandlung. Turgut hatte noch nie ein Blatt.
«Wohl! Blatt!» Ganze Sätze überfordern Turgut.
«Turgut, wenn du eins abgegeben hättest, wäre es hier. Du warst doch überhaupt nicht da, letzte Kunststunde, oder?» Es wäre praktisch, wenn ich das Kursheft hätte, wo die Anwesenheit vermerkt ist. Wo ist das? Muss ich mal suchen bei Gelegenheit.
«Wohl!»
«Wir fangen gleich mit dem neuen Thema an, ich erkläre es in fünf Minuten. Dann arbeitest du eben daran.» Turgut und das Verb «arbeiten» – das sind zwei Magnete, die sich abstoßen.
Turgut zuckt mit den Schultern, schlurft ab und verbreitet auf dem Weg zu seinem Platz nichts als Stress. Hier gibt’s einen Nackenklatscher, da nimmt er einen Stift vom Tisch weg, dort tritt er jemandem auf den Fuß. Alles natürlich nur Spaaaaaß … Abooo, dass die Lehrers aber auch immer so humorlos sind!
Etwas später erkläre ich das neue Thema. Wir stehen dabei alle um einen Tisch herum, nur Turgut ist nicht dabei. Der Kunstraum ist riesig, und ich möchte wissen, in welcher Ecke er schon wieder sein Unwesen treibt. Aber nein, er ist ganz weg. Aus dem Raum entschwunden. In ein paar Minuten wird er wieder da sein und behaupten, er hätte sich bloß draußen die Nase geputzt.
Nochmals erkläre ich die ganze Chose nicht!
Emre, der Gute, will das übernehmen, als Turgut tatsächlich wiederauftaucht. Aber Turgut hört gar nicht hin, sondern brüllt quer durch den Raum irgendwelche türkischen Beschimpfungen zu Nesrin rüber, die daraufhin aufschreit, aufsteht und sich anschickt, ihn zu schlagen. Turgut ist leider doppelt so groß und breit wie Nesrin, deshalb versandet ihr Versuch schon im Ansatz. Er guckt triumphierend in der Gegend herum und sucht nach neuen Betätigungsfeldern. Emre gibt auf.
Nun gut, die Stunde tröpfelt so vor sich hin, die Sonne scheint in den Raum, es ist warm, alle sind friedlich, wenn auch zu laut. Immerhin vergesse ich Turgut für einen Moment. Ich helfe hier und erkläre da, doch plötzlich steht er wieder vor mir.
«Machen?», blökt er mich an.
«Ach, du», sage ich spitz. «Emre hat doch versucht, dir alles zu erklären.»
«Hää? Was Emre?»
Ich kriege leichtes Herzsausen, besonders wegen seines Tons und seines dummdreisten Grinsens, erkläre aber in Kurzfassung, was erklärt werden muss. Schließlich soll ich ja mein Geld im Schweiße meines Angesichts verdienen, so steht es in der Bibel.
Turgut weiß nicht, was in der Bibel steht, und den Koran kennt er bestimmt auch bloß von außen. Gearbeitet hat er trotzdem nicht mehr, außer an meiner Pulsfrequenz. Und um eins ist er dann endgültig verschwunden, obwohl er bis 15 Uhr Unterricht gehabt hätte.
Es ist Freitag! Das Freitagsgebet! Da muss er hin! Sagt er jedenfalls im Abgang.
Lieber Gott, solltest du identisch mit Allah sein, wovon ich ausgehe, dann tu bitte was. Schmeiß Hirn vom Himmel oder finde eine andere Schule für Turgut. Wenn’s geht, noch diese Woche! Amen!
Arabella ruft
Manni kam nicht gerade aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt. Sein Vater war Frührentner, und seine Mutter arbeitete gelegentlich als Küchenhilfe. Er hatte zwei große Brüder, einen Hund und kein einziges Buch. Wozu auch? Niemand las in dieser Familie. Man schaute in die Röhre, das machte mehr Spaß. Es war die Zeit der nachmittäglichen Talkshows in den Neunzigern, und Manni sah sie jeden Tag. Alle! Mittags war er immer einer der Ersten, die aus der Klasse stürzten. Manchmal, besonders wenn der Inhalt des Talks sein Familienleben tangierte, erzählte er mir davon.
«Frl. Krise! Gestern war da so eine Frau bei SAT.1, die hat gesagt, sie haut ihrem Mann eins in die Fresse, wenn er fremdgeht. Da hat meine Mutter zu meinem Vater gesagt, das passiert dir auch, wenn du so was tust.» Ich überlegte nach solchen Bemerkungen immer, ob das Familienleben bei Mannis wohl als wirklich harmonisch zu bezeichnen sei.
Eines Tages machte mich meine Freundin Edda, seine Klassenlehrerin, darauf aufmerksam, dass Manni anscheinend neuerdings ein Instrument spiele. Tatsächlich: Er schleppte oft außer seinem
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