Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
arbeiten – natürlich erst auf mein Signal hin – los, als ob sie es bezahlt bekämen. Gut, einige halten nicht bis zum Schluss durch. Die Konzentration reicht nicht aus. So viel lesen! Und dazu die ganzen Fragen beantworten! (Meine Klasse hat es letztes Jahr geschafft, ungefähr zehn Minuten an diesem Test zu arbeiten, dann war es aus und vorbei.)
Ich bin nicht nur beeindruckt, sondern auch ein bisschen gerührt, wie sie da gebeugt über den Aufgabenheften brüten. Ganz ernsthaft und angestrengt, mit roten Köpfen und einem Gesichtsausdruck, der verrät, dass man hier eine wichtige Aufgabe zu erledigen hat. Nicht mal bei der Realschulprüfung nehmen manche Delinquenten das so ernst!
Dann ist die Zeit abgelaufen, und die Arbeiten werden eingesammelt. Die Schüler verwandeln sich wieder in zu laute dreizehnjährige Pubertanten und -onkel und tun so, als hätten sie gerade das Abitur mit Erfolg abgelegt. Und mir fällt auf, dass ich ja jetzt noch mehr zum Korrigieren habe …
Eine Frage der Methode
Klassenarbeiten gehören zur Schule wie die Wespe zum Pflaumenkuchen. Keiner mag sie, aber ganz ohne sie geht es anscheinend auch nicht.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte verschwanden die klassischen Arbeitshefte. Heute bestehen Arbeiten in der Regel aus mit Aufgaben bedruckten Blättern, in die der geneigte Schüler nur noch die möglichst richtigen Antworten einflechten muss.
Die Abschaffung der Arbeitshefte ist zwar praktisch – wer schleppt schon gern ständig Stapel von zwanzig bis dreißig Heften mit sich herum –, erhöht aber auch deutlich die Gefahr für den Lehrer, Arbeiten zu verlegen oder zu verlieren. Schließlich kämpft man ohnehin schon täglich mit einem unübersehbaren Papierwust, den in Griff zu behalten nicht jedem gegeben ist.
Ich erinnere mich an meinen lieben Kollegen Schwarz, der seine Arbeiten ständig irgendwo liegenließ. Weshalb er sich das antat, immer mit einer Tasche voller Hefte durch die Gegend zu laufen und sie sogar auf Reisen mitzunehmen, habe ich nie verstanden. Mal in Moskau, mal in Monschau oder auch mal im Bus oder auf einer Friedhofsbank vergaß er sie. Ob er das mit voller Absicht tat oder unbewusst, ob er sich vor der Korrektur fürchtete oder heimlich hoffte, jemand würde ihm die Fehlersuche abnehmen, konnte nie ermittelt werden.
Und von mir will ich in diesem Zusammenhang lieber gar nicht sprechen. Immerhin schaffte ich es, alle Arbeitshefte, die ich beim Aufschließen der Autotür eigentlich nur vorübergehend auf dem Autodach deponiert hatte, nach kurzer Fahrt mit Hilfe einiger Passanten fast unversehrt und vollständig wieder einzusammeln …
Turgut ungut
Ein bisschen Turgut gefällig? Von dem hörte man ja hier schon längere Zeit nichts, aber er existiert noch.
Er kommt und geht, wie es ihm gefällt, besonders die späten Randstunden hängt er gern ab. Und in der Mittagspause türmt er fast regelmäßig, leider ist das nicht allzu schwer. Das Hoftor darf nämlich auch in der Pause nicht abgeschlossen werden. Neulich kam er mit einem triefenden Döner wieder in den Unterricht zurück – sehr lustig.
Er will die Schule partout nicht wechseln. Er hat nach dem Scheitern an der Projektschule viel zu viel Angst davor, und gegen seinen Willen kann man nichts machen. Sein familiärer Background plus Betreuer – ach, von denen höre ich gar nichts mehr. Alle Ämter wissen Bescheid, aber die Mühlen der Bürokratie mahlen so langsam wie die der Kirche, und wahrscheinlich werden wir ihn wohl niemals loswerden.
Er wird weiter dasitzen, breitbeinig in seinen weißen Klamotten, schrille Töne absondern, wenn er die geringste Chance zum Stören wittert, Fuat negativ beeinflussen, uns alle in den Wahnsinn treiben und nichts, aber auch gar nichts lernen. Die Schüler haben ebenfalls genug von ihm; man schneidet ihn zwar nicht, aber er wird mehr oder weniger links liegengelassen.
Nur ich muss mich noch an ihm abarbeiten, so wie heute in Kunst.
Ömür teilt die fast fertigen Bilder der letzten Stunde aus, und es ist kein Blatt für Turgut dabei. Aber das fällt mir erst mal gar nicht auf, denn ich muss Material holen, herumrennen und mich mit Erkan streiten, ob die Fenster geöffnet sein dürfen oder geschlossen werden müssen, und Nesrin und Hanna befrieden und Hassan umsetzen und zum dritten Mal meinen Schlüssel suchen und meiner Kollegin im Nebenraum das UHU leihen und schließlich am Pult auf den Stuhl fallen.
Mehr oder weniger sitzen endlich alle und zeichnen
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