Ghost Street
legte sich auf ihre Bronchien und machte ihr das Atmen schwer. Sie ging ein paar Schritte, atmete ruhig durch und versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. Sie hatte ein wenig geschludert in der letzten Zeit. Das letzte Mal war sie vor zwei Wochen gejoggt, und auch das Jazztanzen hatte sie schon drei oder vier Mal geschwänzt. Der Fall mit dem gewalttätigen Ehemann machte ihr mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte. Fast jeden Abend kam sie im Krankenhaus vorbei und versuchte, die Frau zu überreden, ihren Mann endlich anzuzeigen, aber die weigerte sich beharrlich. Kein Einzelfall, wie Alessa von ihren Kollegen und den Cops wusste. Die wenigsten Fälle von häuslicher Gewalt gingen vor Gericht. Die meisten Frauen hatten zu viel Angst vor ihren Männern oder wollten ihnen noch einmal »eine Chance geben«.
Eine Bewegung auf der Brücke ließ Alessa innehalten. Ein dunkler Schatten am Brückengeländer, in den Nebelschwaden nur undeutlich zu erkennen. Sie blickte genauer hin und sah eine Gestalt, wahrscheinlich ein Mann, der etwas auf das Geländer wuchtete. Es sah aus wie ein Sack oder ein Paket.
Ein Umweltverschmutzer, der seinen Abfall in den SavannahRiver warf ? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Man musste schon ziemlich bescheuert sein, wenn man auf diese Weise eine Strafanzeige riskierte. Und wenn es doch so war? Warum schlich er nicht heimlich zum Flussufer oder lud den Abfall irgendwo im Wald ab? Es gab genug einsame Stellen in der näheren Umgebung, die dafür infrage kamen. Industriegebiete, Waldwege, einsame Parkplätze, eine Raststätte.
Und wenn es kein Abfall war, sondern eine … Leiche? So wie man es in Krimis im Fernsehen sah?
Unsinn, sagte sie sich, ich sehe schon Gespenster. Mein Job färbt langsam aufs Privatleben ab. Erst vor drei Monaten war sie beim Prozess gegen einen Serientäter dabei gewesen, der seine Opfer in Plastikfolie gewickelt und in einen abgelegenen See geworfen hatte. Kein Wunder, dass sie unter Wahnvorstellungen litt.
Und doch … es musste ja nicht unbedingt eine menschliche Leiche sein, die der Täter in den Fluss warf. Vielleicht ein Hund oder eine Katze, die er auf diese Weise loswerden wollte.
Auch nicht plausibel, überlegte sie. Wer unbedingt ein Tier umbringen wollte, konnte es vergiften oder erschießen oder in einem Teich ertränken. Dazu brauchte er nicht auf eine Brücke über den Savannah River zu fahren. Viel zu umständlich. Es gab einfachere Methoden, ein Tier loszuwerden. Ein Tierquäler, der seine Freude daran hatte, ein Tier auf so dramatische Weise zu töten? Vielleicht, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Der Sack, es war tatsächlich ein Sack, fiel in den Fluss. Wasser spritzte nach allen Seiten, als er untertauchte. Sie lief zum Ufer und blickte in die Nebelschwaden, sah den Sack nach einiger Zeit wieder auftauchen. Entsetzt erkannte sie, dass sich darin etwas bewegte. Ein Tier? Oderdoch ein Mensch? Was immer in dem Sack war, versuchte verzweifelt, sich aus dem Gefängnis zu befreien, stieß und trat gegen den Stoff und sorgte auf diese Weise nur dafür, dass er sich noch schneller mit Wasser vollsog.
Alessa überlegte nicht lange, sprang in den Fluss und kraulte auf den Sack zu, der in den Nebelschwaden kaum von dem dunklen Wasser zu unterscheiden war. Er trieb mit der Strömung auf die Stadt zu, tauchte unter und kam wieder hoch und ragte nur noch zu einem Drittel aus dem Fluss. Der Inhalt bewegte sich kaum noch. Wenn man ein Lebewesen in den Sack gesperrt hatte, war es schon halb ertrunken. Der Sack war kaum noch von dem Treibholz zu unterscheiden, das ebenfalls im Fluss trieb.
Dennoch schwamm Alessa weiter. In ihrer Aufregung und dem Bemühen, den Sack zu erreichen, spürte sie die kühle Temperatur des Wassers kaum. Mit kräftigen Kraulschlägen kämpfte sie sich durch die Strömung, ungeachtet ihrer Kleidung, die sich längst mit Wasser vollgesogen hatte und sie nach unten zu ziehen drohte. Ihr Blick war auf den Sack gerichtet, als wollte sie ihn hypnotisieren. Sie durfte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren, wenn das Lebewesen darin noch eine Chance haben sollte. Besonders groß war sie nicht. Alessa kam es vor, als würde der Sack schon mehrere Minuten im Fluss schwimmen, viel zu lange, um darin zu überleben, wenn man die meiste Zeit unter Wasser war.
Sie konnte von Glück sagen, dass es bereits hell wurde und sie den Sack einigermaßen im Auge behalten konnte. Im Dunkeln hätte sie nicht die geringste Chance gehabt. Als sie ihn
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