Ghost
befand, stellte ich mich unter. Im Metallgestänge klemmte die Karte einer Minicab-Firma.
Die Fahrt nach Hause dauerte fast eine Stunde, reichlich Zeit also, mir das Manuskript genauer anzuschauen. Das Buch hieß Einer aus vielen. Es waren die Memoiren eines steinalten US-Senators, der nur deshalb berühmt war, weil er ungefähr hundertfünfzig Jahre durchgehalten hatte. Das Werk sprengte jeden normalen Maßstab an Weitschweifigkeit – es schoss weit über jeden Begriff von Langeweile hinaus in eine sauerstoffarme Stratosphäre von äußerster Nichtigkeit. Der Wagen war überheizt, und es roch nach kalter Pizza. Mir wurde schlecht. Ich stopfte das Manuskript wieder in die Tüte und kurbelte das Fenster herunter. Der Fahrpreis betrug vierzig Pfund.
Ich hatte gerade den Fahrer bezahlt und ging – den Kopf wegen des Regens gesenkt, während ich in der Jackentasche nach den Schlüsseln kramte – auf die Haustür zu, da berührte mich jemand leicht an der Schulter. Ich drehte mich um und stieß gegen eine Wand oder wurde von einem Laster gestreift – so kam es mir jedenfalls vor. Irgendetwas großes Hartes aus Eisen rammte mich und warf mich nach hinten, in die Arme eines anderen Mannes. (Man erzählte mir hinterher, dass es zwei waren, beide in den Zwanzigern. Einer habe sich vor dem Eingang zur Erdgeschosswohnung herumgedrückt, der andere sei aus dem Nichts aufgetaucht und habe mich von hinten gepackt.) Ich klappte zusammen, spürte das sandig-nasse Pflaster des Rinnsteins an meiner Backe, keuchte, saugte und schrie wie ein Baby. Meine Finger mussten sich unwillkürlich fest in der Plastiktüte verkrallt haben. Als nämlich ein Fuß auf meine Hand trat und etwas weggerissen wurde, nahm ich durch den viel größeren Schmerz hindurch diesen kleineren, schärferen Schmerz wahr – wie den Klang einer Flöte in einer Sinfonie.
Sicher eines der unangemessensten Worte unserer Sprache ist das Wort »kurzatmig«, das etwas Leichtes, Flüchtiges suggeriert – einen Hauch, einen Anflug von Atemlosigkeit. Aber ich war nicht kurzatmig gewesen. Man hatte mich durchgeprügelt und durchgewalkt und halb erstickt, zu Boden geschlagen und erniedrigt. Mein Solarplexus fühlte sich an, als steckte ein Messer drin. Ich japste nach Luft und war davon überzeugt, dass man mich niedergestochen hatte. Ich spürte, wie man mich an den Armen packte und in eine sitzende Position hievte. Man lehnte mich gegen einen Baum, dessen Rinde mir ins Rückgrat stach, und als ich es schließlich schaffte, mir etwas Sauerstoff in die Lunge zu pumpen, fing ich sofort an, meinen Bauch blind nach einer klaffenden Wunde abzutasten. Ich wusste, dass sie da sein musste, und ich stellte mir vor, dass mir die Eingeweide in Knäueln heraushingen. Aber als ich meine feuchten Finger inspizierte, war da kein Blut, sondern nur dreckiges Londoner Regenwasser. Es dauerte vielleicht eine Minute, bis mir bewusst wurde, dass ich nicht sterben würde, dass ich im Wesentlichen unversehrt war. Und dann wollte ich nur noch, dass sie mich in Ruhe ließen, all diese gutherzigen Menschen, die um mich herumstanden und ihre Handys zückten und mich fragten, ob sie die Polizei oder einen Krankenwagen rufen sollten.
Die prickelnde Aussicht, auf einer Unfallstation zehn Stunden darauf zu warten, bis man mich untersuchte, gefolgt von einem halben Tag auf einem Polizeirevier, bis man meine Aussage aufnahm, reichte aus, um mich aus dem Rinnstein die Treppe hinauf in meine Wohnung zu treiben. Ich schloss die Tür hinter mir, zerrte mir den Mantel vom Leib und legte mich zitternd aufs Sofa. Dort blieb ich vielleicht eine Stunde lang still liegen, während die kalten Schatten des Januarnachmittags nach und nach ins Zimmer krochen. Dann ging ich in die Küche, um mich ins Spülbecken zu übergeben, und nachdem ich das erledigt hatte, goss ich mir einen sehr großen Whisky ein.
Ich spürte, wie ich mich aus meinem Schockzustand heraus in Richtung Euphorie bewegte. Man kann sogar sagen, der Tropfen Alkohol stimmte mich ausgesprochen heiter. Ich griff in die Innentasche meiner Jacke und dann an mein Handgelenk: Brieftasche und Uhr waren noch da. Das Einzige, was fehlte, war die gelbe Plastiktasche mit Senator Alzheimers Memoiren. Ich musste laut lachen bei der Vorstellung, wie die Diebe durch die Ladbroke Grove liefen, sich dann in irgendeine Gasse drückten und ihre Beute begutachteten: »Mein Rat an jeden jungen Menschen, der heutzutage eine Laufbahn im öffentlichen Leben ...« Aber
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