Ghost
Ende der Welt anhört. Wir kamen durch Balham, und zwei Stationen später stieg ich aus.
Das Grab hatte ich schnell gefunden. Ich erinnerte mich, dass Ruth gesagt hatte, die Beerdigung finde auf dem Streatham Cemetery statt. Ich fand auf dem Friedhofsplan seinen Namen, und der Wärter zeigte mir den Weg zu dem Grab. Ich ging an steinernen Engeln mit Geierflügeln und vermoosten Cherubim mit flechtenartigen Locken vorbei, an von Marmorrosen umwundenen Kreuzen und viktorianischen Sarkophagen so groß wie Geräteschuppen. Typischerweise fiel McAras Beitrag zur Nekropolis recht schlicht aus. Keine blumigen Grabsprüche, kein »Sag nicht, Dein Streben war zur Gänze nichtig«, kein »Gut gemacht, du guter, treuer Diener« für unseren Mike. Nur eine Kalksteinplatte mit Name und Daten.
Es war ein verträumter Spätvormittag im Frühling, voller Blütenstaub und Abgase. In der Ferne rollte der Verkehr über die Garrett Lane in Richtung Innenstadt. Ich ging in die Hocke und stützte mich mit den Händen auf das taunasse Gras. Wie schon gesagt, ich bin nicht der abergläubische Typ, aber ich spürte, wie ein Gefühl der Erleichterung von mir Besitz ergriff, als hätte sich ein Kreis geschlossen, als hätte ich eine Aufgabe erfüllt.
In diesem Augenblick fiel mir, halb verdeckt unter wucherndem Gras, ein kleiner Strauß verwelkter Blumen auf. Zwischen den Stielen steckte eine kleine Karte. Darauf standen, kaum noch lesbar nach den jüngsten ausgiebigen Londoner Regengüssen, in eleganter Handschrift die Worte: »In Gedenken an einen guten Freund und loyalen Kollegen. Ruhe in Frieden, mein lieber Mike. Amelia.«
*
Als ich wieder in der Wohnung war, rief ich sie auf ihrem Handy an. Mein Anruf schien sie nicht zu überraschen.
»Hallo«, sagte sie. »Ich habe gerade an Sie gedacht.«
»Aus einem bestimmten Grund?«
»Ich lese gerade Ihr Buch – Adams Buch.«
»Und?«
»Es ist gut. Falsch, es ist besser als gut. Es ist, als wäre er wieder da. Nur ein Element fehlt, meiner Meinung nach.«
»Und das wäre?«
»Nicht so wichtig. Ich sage es Ihnen persönlich. Vielleicht können wir uns heute Abend bei dem Empfang kurz sprechen.«
»Bei welchem Empfang?«
Sie lachte.
»Bei Ihrem Empfang, Sie Idiot. Die Vorstellung Ihres Buches. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie keine Einladung bekommen haben.«
Ich hatte schon lange mit niemandem mehr gesprochen. Ich brauchte ein, zwei Sekunden, bis ich ihr antworten konnte.
»Keine Ahnung, ob ich eine bekomme habe oder nicht. Ehrlich gesagt, es ist schon eine Zeit lang her, dass ich meine Post durchgeschaut habe.«
»Sie müssen eine bekommen haben.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Auf die Möglichkeit, am Büfett ihrem Ghost in die Augen zu schauen, reagieren meine Kunden bisweilen recht eigen.«
»Nun ja, Ihr Kunde wird ja wohl nicht anwesend sein, oder?«, sagte sie. Sie hatte einen forschen Ton anschlagen wollen, ihre Stimme klang aber nur schrecklich leer und gezwungen. »Sie sollten hingehen, ob mit oder ohne Einladung. Und wenn man Sie wirklich nicht eingeladen hat, dann gehen Sie mit mir. Auf meiner Einladung steht ›Amelia Bly mit Begleitung‹.«
Die Aussicht, mich wieder in Gesellschaft zu begeben, verursachte bei mir sofort Herzrasen.
»Gehen Sie allein? Was ist mit Ihrem Mann?«
»Ach, der. Fürchte, das hat nicht gepasst. Ich hatte wohl nicht begriffen, wie sehr ihm dieses ›mit Begleitung‹ auf die Nerven ging.«
»Tut mir leid für Sie.«
»Lügner«, sagte sie. »Wir treffen uns um sieben am Ende der Downing Street. Der Empfang ist gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Whitehall. Wenn Sie kommen, dann kommen Sie nicht zu spät. Ich warte nur fünf Minuten.«
*
Nach dem Gespräch mit Amelia ging ich sorgfältig den seit Wochen aufgelaufenen Berg Post durch. Ich hatte keine Einladung erhalten. Eingedenk der Umstände meines letzten Zusammentreffens mit Ruth, überraschte mich das nicht sonderlich. Allerdings war ein Exemplar des fertigen Buchs gekommen. Es war hübsch gemacht. Den Umschlag zierte – mit Blick auf den amerikanischen Markt – das Foto eines lässig-eleganten Lang, der bei einer gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des amerikanischen Kongresses eine Rede hält. Unter den Fotografien im Innenteil des Buchs fand sich keines von denen, die McAra über Langs Zeit in Cambridge ausgegraben hatte: Ich hatte sie dem Bildredakteur gar nicht erst geschickt. Ich überflog die Danksagungen, die ich in Langs Ton
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