Ghost
dass sie schon jahrelang ziemlich schwer getrunken hat. Der Tumor war in der Leber. Heute könnte man vielleicht was dagegen unternehmen, aber damals ...« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Einen Monat später war sie tot.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Als mein Abschlussjahr anfing, bin ich wieder zurück nach Cambridge und habe ... habe mich im Leben verloren, ja, so könnte man das wohl nennen.«
Er verstummte.
»Ich habe eine ähnliche Erfahrung durchgemacht«, sagte ich.
»Wirklich?« Seine Stimme war ausdruckslos. Er schaute hinaus zum Ozean, zu den ans Ufer schlagenden Brechern des Atlantiks. Mit seinen Gedanken schien er weit jenseits des Horizonts zu sein.
»Ja.« Wenn ich meinem Beruf nachgehe, rede ich normalerweise nicht über mich – sonst übrigens auch nicht. Aber manchmal kann etwas Selbstentblößung dabei behilflich sein, einen Auftraggeber aus der Reserve zu locken. »Ich war etwa genauso alt wie Sie damals, als ich meine Eltern verloren habe. Hatten Sie nicht auch den Eindruck, dass die Erfahrung Sie auf eine seltsame Weise, trotz all des Kummers, stärker gemacht hat?«
»Stärker?« Er wandte seinen Blick vom Fenster ab und schaute mich mit gerunzelter Stirn an.
»In dem Sinn, dass man selbstsicher wird. Dass man weiß, man hat das Schlimmste überstanden, was einem zustoßen kann. Dass man jetzt auf eigenen Füßen stehen kann.«
»Vielleicht haben Sie recht. Darüber habe ich eigentlich noch nie nachgedacht. Zumindest bis vor Kurzem nicht. Merkwürdig. Ich erzähle Ihnen mal was.« Er beugte sich vor. »Als Teenager habe ich zweimal eine Leiche gesehen. Und dann – obwohl ich Premierminister war mit all den Konsequenzen, etwa dass man Menschen in den Krieg schicken und Schauplätze von Bombenanschlägen aufsuchen muss und was weiß ich noch alles – erst fünfunddreißig Jahre später wieder eine.«
»Und wer war das?«, fragte ich. Eine dumme Frage.
»Mike McAra.«
»Hätten Sie nicht einen von den Sicherheitsbeamten hinschicken können, der ihn identifiziert?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, unmöglich. Das war ich ihm schuldig, wenigstens das.« Er verstummte wieder, packte dann plötzlich das Handtuch und wischte sich das Gesicht ab. »Das ist ein grausiges Thema«, sagte er. »Sprechen wir über was anderes.«
Ich schaute auf meine Fragenliste. Da standen eine Menge Fragen, die sich um McAra drehten. Nicht dass ich beabsichtigte, die Antworten darauf ins Buch zu nehmen: Selbst ich erkannte, dass eine Fahrt ins Leichenschauhaus, um einen toten Mitarbeiter zu identifizieren, sich in einem Kapitel mit der Überschrift »Eine hoffnungsvolle Zukunft« nicht gut machen würde. Der Grund lag mehr in der Befriedigung meiner eigenen Neugier. Aber ich wusste auch, dass ich nicht die Zeit dazu hatte, um mir diese Abschweifung leisten zu können: Ich musste Gas geben. Deshalb kam ich seinem Wunsch nach und wechselte das Thema.
»Cambridge«, sagte ich. »Reden wir darüber.«
Ich hatte damit gerechnet, dass die Jahre in Cambridge – für mich als Schreiber – der leichteste Teil des Buches werden würden. Ich hatte selbst dort studiert, nur ein paar Jahre nach Lang, und in Cambridge hatte sich nicht viel verändert. Dort veränderte sich nie viel: Das machte eben den besonderen Charme dieser Uni aus. Ich würde sämtliche Klischees einbauen können – die Fahrräder, die Schals, die Talare, die flachen Flussboote, die kleinen Kuchen, die Gaskamine, die Chorknaben, die Pubs am Fluss, die bowlertragenden Portiers, die Fenland-Winde, die schmalen Straßen, das Erschauern, das einen befiel, wenn man daran dachte, auf den Pflastersteinen zu gehen, auf denen einst Newton und Darwin wandelten, usw., usw. Und das war auch gut so, dachte ich, während ich einen Blick ins Manuskript warf. Wieder einmal würden nämlich meine Erinnerungen für die von Lang herhalten müssen. Er studierte jetzt Wirtschaftswissenschaften, spielte kurze Zeit in der zweiten Fußballmannschaft des College und hatte sich einen Namen als Schauspieler im Studententheater gemacht. Obwohl McAra pflichtgetreu eine Liste aller Produktionen zusammengetragen hatte, in denen der Expremier jemals aufgetreten war, und sogar aus einigen der Sketche der Footlights Revue zitierte, in denen Lang mitgespielt hatte, machte das alles einen blutleeren, hastig niedergeschriebenen Eindruck. Was fehlte, war Leidenschaft. Natürlich gab ich McAra die Schuld dafür. Ich konnte mir gut vorstellen, wie wenig
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