Ghostwalker 01 - Ghostwalker 01
Zivilisation zurückzukehren. Doch es war so – am liebsten wäre sie umgekehrt und in die Ruhe und Schönheit des Waldes geflüchtet. Amber schien ihr Zögern zu spüren, denn sie drehte sich zu ihr um. Marisa straffte die Schultern und schob ihr Kinn vor. Noch einmal würde sie ihre Schwäche nicht zeigen. Coyle hatte seine Entscheidung getroffen, und sie würde das akzeptieren. Auch wenn sie ihm dafür gerne ordentlich in den Hintern treten würde. Aber das musste sie mit sich selbst ausmachen. Sie durfte ihrer Eskorte nicht noch mehr Zeit stehlen.
„Ich nehme an, wenn ich jetzt immer auf den Lärm zugehe, komme ich bald zur Straße.“
„Ja.“ Amber sah sie forschend an. „Es sind noch fünf oder zehn Minuten.“
Marisa blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das werde ich wohl schaffen.“ Seltsamerweise spürte sie einen Kloß im Hals. „Danke, dass ihr mich hierhergebracht habt, ich weiß das sehr zu schätzen.“
„Das haben wir gern gemacht.“ Amber sah Finn an. „Wir sollten dich aber bis zur Straße bringen.“
„Und Gefahr laufen, dass euch jemand sieht? Das ist doch völlig unnötig, ich bin durchaus in der Lage, ein paar Meter alleine zu gehen.“
„Ich weiß nicht …“
Marisa unterbrach sie. „Ich aber. Geht zurück und helft Coyle dabei, den Jungen zu finden. Das ist wichtiger, als mir Händchen zu halten.“
Finn drehte sich um und schien zu lauschen. „Es ist niemand in der Nähe. Wenn du sicher bist, machen wir es so, wie du es möchtest.“
Marisa nickte. Überrascht versteifte sie sich, als Amber sie umarmte. Nach einigen Sekunden entspannte sie sich wieder und drückte Coyles Schwester kurz an sich.
„Ich wünsche dir eine sichere Heimreise.“ Ambers Stimme war sanft. Langsam löste sie sich von Marisa und zog etwas aus ihrer Hosentasche. „Das Rezept von gestern, damit du dich an uns erinnerst.“
Marisa lächelte, während sie gleichzeitig versuchte, die Tränen zurückzuhalten. „Danke, auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass ich euch sowieso nie vergessen werde.“ Sie holte tief Luft und hielt Finn die Hand hin. „Es war wirklich schön bei euch. Viel Glück.“
Finn zögerte, bevor er ihre Hand ergriff, und zog sie schließlich mit einem Brummen in eine feste Umarmung. Marisa schloss die Augen und genoss das Gefühl, auch wenn es ihren Kummer noch verstärkte, weil der Berglöwenmann sie an Coyle erinnerte und daran, was sie verloren hatte. Schließlich löste sie sich zögernd und wischte sich über die Augen.
Ihr gelang ein zittriges Lächeln. „Lebt wohl.“
Damit drehte sie sich rasch um und strebte auf die Straße zu. Seltsamerweise konnte sie es plötzlich kaum noch erwarten, aus dem Wald herauszukommen. Fast blind setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie durch die Bäume das graue Asphaltband der Straße sehen konnte. Im letzten Moment drehte sie sich noch einmal um und vergaß beinahe zu atmen. Zwei Berglöwen standen reglos auf einer Anhöhe und sahen sie direkt an. Der kleinere neigte den Kopf, als Marisa winkte, dann drehten sie sich wie auf Kommando um und liefen los. Schon nach wenigen Metern waren sie nicht mehr zu sehen.
Mit einem tiefen Seufzer setzte Marisa sich wieder in Bewegung und ließ den Wald hinter sich.
Coyle wollte Amber ansprechen, nachdem sie zurückgekehrt war, doch sie lief einfach an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Während er ihr hinterhersah, rieb er über seinen Nacken. Wie es schien, hatte er mit irgendetwas das Missfallen seiner Schwester erregt, und er konnte sich ungefähr vorstellen, was das gewesen war. Aber verdammt, was hätte er anderes tun können?
„Na, schon ein schlechtes Gewissen?“ Finns Stimme erklang unvermittelt hinter ihm.
Coyle drehte sich zu ihm um. „Fang du nicht auch noch damit an!“
Finn hatte sich zurück in einen Menschen verwandelt, sich aber nicht die Mühe gemacht, etwas anzuziehen. „Ich darf mich doch wohl nach deinem Befinden erkundigen, oder nicht?“
„Nicht, wenn du mir eigentlich etwas anderes damit sagen willst. Ich habe heute keinerlei Interesse an Spielchen.“
Finn richtete sich zu seiner vollen Größe auf, keine Spur von Humor in seinem Gesicht. „Du wirst es nicht glauben, aber es war kein Vergnügen, Marisa zur Straße zu bringen. Das Mädchen wird dir nie wieder vertrauen, ich hoffe, das ist dir klar.“
Coyle versuchte, seinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, aber er befürchtete, dass es ihm nicht gelang.
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