vergewissert hatte, dass ihr Vater in der Zwischenzeit nicht zurückgekommen war, schloss Isabel die Geheimtür wieder hinter sich, stellte das Buch ins Regal zurück und durchquerte das Büro. Berglöwen. Es musste irgendwie zusammenhängen, dass ihr Vater jemandem befahl, Berglöwen einzufangen, und Bowen Bilder von den gleichen Tieren in seinem Kopf hatte.
Ein Zittern lief durch ihren Körper. Wie war es überhaupt möglich, dass sie wusste, was Bowen vor seinem geistigen Auge sah? Ganz davon zu schweigen, dass sie relativ sicher war, in den letzten Tagen seine Schmerzen gefühlt zu haben. Daher anscheinend auch die Kopfschmerzen, ihr Gehirn war mit dieser Tatsache vermutlich völlig überfordert gewesen und hatte eine Warnung ausgesandt. Nur wodurch waren sie in Los Angeles ausgelöst worden? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Bowen dort gewesen war. Vielleicht reagierte sie auch auf die Nähe anderer Menschen empfindlich? Im Zoo waren an dem Tag viele Besucher unterwegs gewesen. Sie dachte an die Raubkatzen, vor deren Käfig sie zusammengebrochen war. Oder „funktionierte“ es auch bei Tieren? Isabels Herz schlug bei der Vorstellung schneller.
Mühsam riss sie sich zusammen. Darüber würde sie später nachdenken, erst einmal musste sie dafür sorgen, dass jemand etwas für ihn tat. Vermutlich sollte sie die Polizei anrufen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, ihren Vater verhaften zu lassen. Was durchaus auch passieren konnte, wenn sie Bowens Familie einschaltete, aber dann war sie es wenigstens nicht selbst gewesen. Was eine ziemlich verquere Logik war, aber sie konnte nichts gegen ihr Gefühl tun.
Rasch verließ Isabel das Haus und schlug den Weg in Richtung der Felsen ein. Sie spürte, wie die geistige Verbindung zwischen ihr und Bowen immer schwächer wurde, je weiter sie sich vom Haus entfernte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich fast durchgehend seine Anwesenheit gespürt hatte, ohne zu wissen, was es war. Einerseits war sie froh, endlich wieder für sich zu sein, andererseits fühlte sie sich seltsam … leer, als fehlte etwas. Sie verlor allmählich den Verstand.
Bei den Felsen angekommen blickte sie sich rasch um, obwohl sie sicher war, alleine zu sein. Das Haus ihres Vaters lag so weit abseits, dass sich niemand hierher verirrte. Und er war vorhin mit dem Auto weggefahren und hatte sie gewarnt, ihn nicht so schnell zurückzuerwarten. Also war sie neben Bowen der einzige Mensch weit und breit. Isabel kaute auf ihrer Unterlippe. Hätte sie ihn befreien sollen? Aber was sollte sie dann mit ihm machen? Die Stadt war in seinem geschwächten Zustand zu weit weg, und sie besaß weder ein Auto noch einen Führerschein. Nein, es war besser, jemanden zu kontaktieren, der Bowen holen kam.
Nach einem letzten Rundblick setzte sie sich auf einen Felsen und zog ihr Handy heraus. Sie klappte es auf und schnitt eine Grimasse, als sie sah, dass der Akku fast leer war. Warum vergaß sie nur immer, das Ding aufzuladen? Hoffentlich reichte es noch für das Gespräch, sie wollte nicht das Telefon ihres Vaters für den Anruf benutzen. Isabel legte sich den Zettel mit der E-Mail-Adresse auf den Schoß und wählte Claires Nummer. Ihr Magen krampfte sich bei der Vorstellung zusammen, ihren Vater so zu hintergehen, aber noch schlimmer würde sie sich fühlen, wenn sie nichts tat und Bowen seinem Schicksal überließ.
Sie atmete tief durch, während sie auf das Freizeichen lauschte. Komm schon, Claire, geh dran! Aber es kam nur die Ansage der Mailbox. Isabel schloss die Augen und fluchte stumm. Verdammt, normalerweise war ihre Freundin geradezu mit ihrem Handy verwachsen. Okay, dann musste eben eine Nachricht reichen. Nach dem Piepton begann sie rasch zu reden.
„Claire, hier ist Isabel. Hör gut zu, es ist wirklich wichtig. Ich möchte, dass du für mich eine E-Mail schreibst, und zwar an
[email protected].“ Sie buchstabierte die Adresse und fuhr dann fort. „Schreib bitte Folgendes: Betreff: Ghostwalker. Dann im Text: Bowen braucht Ihre Hilfe. Er befindet sich an folgender Adresse: Henderson, Nevada, Red Rock Road. Bitte kommen Sie schnell, er hat nicht mehr viel Zeit.“ Isabel räusperte sich. „Ich weiß, das klingt merkwürdig, Claire, aber es ist wirklich sehr, sehr wichtig und vor allem eilig. Ich rufe dich später wieder an, wenn mein Handy aufgeladen ist.“
Isabel beendete die Verbindung und klappte das Handy zu. Hoffentlich hörte Claire ihre Nachrichten schnell ab