Ghostwalker 01 - Ghostwalker 01
nicht mehr gebraucht wird.“ Abrupt drehte Marisa den Wasserhahn auf und hielt die Kanne darunter. „Ich verstehe die Vorsicht, aber es tut mir weh, für nicht vertrauenswürdig gehalten zu werden.“
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Coyle vertraut Ihnen, sonst hätte er Sie nie so nah herangelassen. Er zieht sich zurück, weil er glaubt, er müsste zuerst an die Gruppe denken.“
„Und was kann ich dagegen machen?“
Aliyah seufzte. „Nichts. Aber ich glaube, dass mein Sohn sehr bald erkennen wird, wo seine wahren Prioritäten liegen.“
Das warme Lächeln auf Aliyahs Gesicht ließ Marisa verlegen werden, deshalb wechselte sie rasch das Thema. „Wie kommt es, dass Sie nicht im Lager leben?“
Ein sehnsüchtiger Ausdruck glitt über Aliyahs Gesicht. „Wenn wir ein bestimmtes Alter erreicht haben, ziehen sich die Berglöwen in uns zurück, wir können uns nicht mehr verwandeln. Und damit erhalten wir die Freiheit, uns in den Städten anzusiedeln und ein normales Leben zu führen.“ Ihre Mundwinkel hoben sich. „Wir lernen sogar, Autos zu fahren.“
„Ich dachte, Sie hätten keine Papiere?“ Marisa schob Angus zur Seite, der sich an ihr vorbeidrängen wollte.
„Es gibt Mittel und Wege, welche zu bekommen. Und wenn man einmal offiziell registriert ist, kann man auch seinen Führerschein machen, einen Job annehmen, reisen, alles, wozu man Lust hat.“
Marisa gab Kaffeepulver in den Filter und schaltete die Maschine an, bevor sie sich wieder zu Coyles Mutter umdrehte. „Und es will niemand im Lager bleiben?“
Aliyah schwieg einen Moment und neigte dann den Kopf in einer Geste, die Marisa an Coyle erinnerte. „Das hat nichts mit wollen zu tun. Wenn wir älter und krankheitsanfälliger werden, sind wir eine Bürde für die anderen. Es ist einfacher und vor allem bequemer, in einer Stadt zu leben. Allerdings ziehen nur wenige in eine größere Stadt, die meisten leben in Gruppen am Rand von Kleinstädten, möglichst nah am Wald.“
„Damit sie sich heimischer fühlen?“
„Damit die Verwandtschaft zu Besuch kommen kann, ohne größeres Aufsehen zu erregen.“ Aliyahs Lachen war ansteckend.
Als der Kaffee durchgelaufen war, goss Marisa ihn in zwei Becher und trug sie in das Wohnzimmer. Aliyah setzte sich auf das Sofa, und Angus legte sich ihr zu Füßen. Auf Marisas fragenden Blick hin zuckte sie nur die Schultern. Eine Weile schwiegen sie, während sie den ersten Schluck Kaffee genossen.
„Was ist mit den Kindern?“
Fragend sah Aliyah auf. „Was soll mit ihnen sein?“
„Ich habe im Lager nirgends Kinder gesehen. Leben sie auch in der Stadt?“
„Nein, das würde nicht gehen, weil sie noch nicht wirklich steuern können, welche Gestalt sie gerade haben. Nach Bowens Entführung wurden sie an einen sicheren Ort gebracht. Einige der Mütter passen dort auf sie auf. Wahrscheinlich ist die Gruppe inzwischen wieder zusammen, nachdem sie umgezogen sind.“
Marisa nickte schweigend.
„Genug über uns, wie ist es Ihnen ergangen, nachdem Coyle und Bowen weg waren? Bowen hat mich eindringlich gebeten, Sie danach zu fragen, wie es Isabel geht.“
Marisa biss sich auf die Lippen, um nicht zu fragen, ob Coyle auch etwas über sie hatte wissen wollen. „Isabel geht es den Umständen entsprechend. Sie steht noch unter Schock, aber ihre Mutter kümmert sich um sie, so gut sie kann. Inzwischen werden sie schon wieder in Los Angeles sein.“
Aliyah nickte. „In ihrer vertrauten Umgebung wird es ihr hoffentlich bald besser gehen. Wurden Sie von der Polizei sehr drangsaliert?“
„Sie haben sich redlich bemüht, etwas zu finden, was mich mit dem Mord in Verbindung bringt, aber es ist ihnen nicht gelungen. Und da Isabel ausgesagt hat, ich wäre mit ihr unterwegs gewesen, konnten sie mich nicht länger festhalten.“ Marisa verzog den Mund, als sie sich an die bohrenden Fragen des Detectives erinnerte. „Besonders, da vor dem Haus die Reifenspuren eines anderen Wagens gefunden wurden.“ Marisas Griff um ihre Tasse wurde fester. „Ich wünschte nur, wir wären früher da gewesen, dann wäre Henry Stammheimer noch am Leben.“
„Oder ihr wärt auch tot.“ Versonnen nippte Aliyah an ihrem Kaffee. „Ich weiß, es klingt kalt, aber ich bin froh, dass er tot ist und meiner Familie und meinen Freunden nicht mehr schaden kann. Würde er noch leben, hätten wir ihn nicht einmal anzeigen können, er hätte alle Trümpfe in der Hand gehalten.“
Nachdenklich kaute Marisa an ihrer Unterlippe.
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