Ghostwalker 04. Fluch der Wahrheit
ganzen Körper. Sie war so erschrocken gewesen, dass sie sofort wieder nach oben geflüchtet war. Eine Tatsache, die ihr immer noch zu schaffen machte. Wie hatte sie das tun können? Bowen hatte so eindeutig ihre Hilfe benötigt, und sie war zu feige gewesen, ihn sofort zu befreien und die Wut ihres Vaters auf sich zu nehmen.
Wie viel Leid hätte sie ihm und letztendlich auch sich selbst ersparen können, wenn sie ihm gleich geholfen hätte? Wäre ihr Vater dann heute vielleicht noch am Leben? Isabel blinzelte und starrte in den Raum, der noch genauso aussah, wie sie ihn vor all den Monaten verlassen hatte. Die Kamera hatte Bowen in seiner Wut zerstört und auf den Boden geworfen. Chirurgisches Besteck und Latexhandschuhe lagen wild durcheinander. Auf der Liege und dem Beistelltisch waren dunkle Flecken zu sehen – wahrscheinlich Bowens Blut. Helle Punkte flimmerten vor ihren Augen, und sie presste die Hand vor den Mund, als Übelkeit in ihr aufstieg. Mit einem rauen Laut drehte sie sich um und rannte die Treppe wieder hinauf. Sie lief und lief und hielt erst an, als sie die roten Felsen in einiger Entfernung zum Haus erreicht hatte. Schwer atmend ließ sie sich auf die Steine sinken und genoss die Wärme, die von oben und unten in sie sickerte.
Die Luft war trocken und staubig, trotzdem atmete Isabel sie tief ein, um den Gestank des Kellers loszuwerden. Eigentlich war die Luft nur abgestanden gewesen, aber sie hatte es keine Sekunde länger dort aushalten können. Isabel schnitt eine Grimasse. So viel zu ihrer neu gefundenen Stärke und ihrem Willen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Offenbar hatte sie sich doch nicht wirklich verändert. Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen der Felsen, zog die Beine an ihren Körper und schlang die Arme darum. Hier hatte sie damals ihre Freundin Claire angerufen und sie gebeten, den Berglöwenwandlern eine Nachricht zu übermitteln, damit Bowen gerettet wurde. Sie hatte geglaubt, ihren Vater überlisten zu können, aber er hatte genau gewusst, dass sie bei Bowen gewesen war und sie in die Falle laufen lassen. Ein Schauder fuhr bei der Erinnerung durch ihren Körper.
Isabels Kopf ruckte hoch, als sie in ihrem Kopf etwas spürte: ein Berglöwe war in der Nähe. Hoffnung kam in ihr auf, dass Bowen vielleicht doch hierhergekommen war. »Bowen, bist du das?« Sie blickte über die karge Landschaft vor sich, konnte aber keine Bewegung entdecken. »Komm bitte raus.«
Lange Zeit saß sie still da, doch nichts rührte sich. Enttäuscht sackte sie wieder in sich zusammen. Vermutlich hatte sie sich das Gefühl nur eingebildet, weil sie es sich so sehr wünschte. Wenn Bowen sie hätte sehen wollen, wäre er mit Coyle und Marisa angereist. Das hatte er nicht getan, also musste sie davon ausgehen, dass er sie schon längst vergessen hatte. Oder sie wegen der Taten ihres Vaters hasste. Nein, das konnte sie nicht glauben, er hatte sie sogar getröstet, als sie die Leiche entdeckt hatte, und sie zum Abschied geküsst. Dennoch musste sie die Wahrheit akzeptieren: Sie war Bowen nicht wichtig genug, dass er sich bei ihr meldete. Und das schmerzte mehr, als sie sich eingestehen mochte.
Isabels Herz klopfte schmerzhaft. Zuerst hatte sie noch geglaubt, dass sie sich die Gefühle für ihn nur eingebildet hatte, weil die Erlebnisse sie so mitgenommen hatten und Bowens Fähigkeit, sich in einen Berglöwen zu verwandeln, außergewöhnlich war. Aber nach beinahe einem Jahr musste sie sich eingestehen, dass es nicht daran lag. Irgendetwas war geschehen, als sie Bowen in ihrem Kopf gespürt hatte, das es ihr jetzt unmöglich machte, ihn zu vergessen. Sie hatte versucht herauszufinden, woher diese Fähigkeit kam, die Gefühle von Katzen aller Art zu spüren oder wie in Bowens Fall sogar Bilder aus seinem Kopf zu empfangen, doch sie hatte weder in der Fachliteratur noch im Internet etwas dazu gefunden.
Ihre heimlichen Forschungen, bei denen Claire ihr behifllich gewesen war, hatten nur die Erkenntnis gebracht, dass es bei Tieren nur die stärksten Gefühle waren, die zu ihr in Form von Kopfschmerzen durchdrangen, besonders Leid. Bei Bowen dagegen hatte sie viel differenziertere Gefühle wahrnehmen können und »gesehen«, was ihm durch den Kopf ging. Ein Schauder lief über Isabels Rücken, als sie sich daran erinnerte, wie er an ein Bad in einem kleinen See in der Wildnis gedacht hatte, und sie selbst plötzlich dort aufgetaucht war. Auch die Drogen, mit denen ihr Vater ihn gefügig machen wollte,
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