Gib mir deine Seele
Schritten davonging.
Dann betrat Pauline die Bühne, und Constantin traute seinen Augen nicht. Sie trug ein schlecht sitzendes Kleid und hatte ihre dunklen Locken zu einer Gretchenfrisur dicht um den Kopf gelegt. Was hat sie sich bloß dabei gedacht? Wirklich erschreckend fand er aber etwas ganz anderes: Die Ausstrahlung, die ihn von Anfang an für sie eingenommen hatte, war wie fortgewischt. Nichts erinnerte mehr an die Leidenschaft, mit der sie gestern über ihre Pläne und die Musik gesprochen hatte. So wird das nichts. Abwartend lehnte er sich zurück und hörte ihr zu, wie sie sich kurz vorstellte und danach mit ihrem Vortrag begann.
Das erste Lied war in Moll und ohnehin schon melancholisch, denn es erzählte von der verlorenen Unschuld eines zwölfjährigen Mädchens. Beklagenswerter noch erschien ihm allerdings Paulines wenig überzeugende Stimme, die zwar jung genug klang, um ihr die kindliche Verzweiflung abzunehmen, aber nicht zu berühren verstand. Rusalkas »Mond«-Arie, die ihn in Venedig tief beeindruckt hatte, hörte sich heute ebenfalls vollkommen anders an.
Sollte ich mich geirrt haben? Nein, das war unmöglich. Wahrscheinlicher war, dass sie die falsche Technik anwandte. Daran konnte man arbeiten. Der Sache wollte er auf den Grund gehen – und zwar so schnell wie möglich.
»Ist sie das?«, fragte jemand leise hinter ihm. Antonio hatte also seine Neugier nicht bezwingen können.
Constantin sah Pauline noch hinterher, bis sie in der Seitengasse der Bühne verschwunden war. Sie hatte ausgesehen, als würde sie weinen. Gemeinsam mit Antonio verließ er anschließend die Loge, um die nächste Sopranistin nicht zu stören.
»Die Kleine ist hübsch und jung«, sagte Antonio, und es klang wie ein Vorwurf. »Aber was war denn mit ihrem Vibrato los? Ich habe vorhin zufällig gehört, wie sie sich warm gesungen hat. Das hörte sich nicht mal so übel an. Keine große Stimme, aber doch ausreichend für ein Opernhaus irgendwo in der Provinz.«
»Ich weiß es nicht«, gab Constantin zu. »Sie hat die Rusalka unter der Dusche gesungen, und ich sage dir, so habe ich die Arie noch niemals zuvor gehört.«
Der Musikdirektor zwinkerte ihm zu. »Ach, so weit seid ihr schon? Dann sag ihr, sie soll das Singen aufgeben und sich lieber auf ihre anderen Talente besinnen. Zweifellos gibt es da etwas, sonst würdest du dich nicht für sie interessieren, nicht wahr?«
»Das wäre durchaus eine Alternative.« Constantin ging auf den leichten Ton ein. Ihm war eine Idee gekommen, und er fühlte sich sofort besser. »Aber vorher werde ich sie der Corliss vorstellen.«
»Im Ernst? Was hat dir diese Pauline getan?«
Elena Corliss gehörte zu den besten Gesangslehrerinnen, die derzeit unterrichteten. Die Leute rissen sich darum, Stunden bei ihr nehmen zu dürfen. Sie besaß das absolute Gehör, wusste mehr über Gesang als die meisten Menschen auf dieser Welt und hasste Dummheit und Eitelkeit. Ihre gefürchteten Wutausbrüche waren legendär, die größten Diven hatten schon weinend ihr Studio verlassen. Mindestens eine Primadonna hatte nach Elenas vernichtendem Urteil ihre Karriere an den Nagel gehängt, von einer anderen erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, sie sei nach einer Stunde bei ihr ins Wasser gegangen.
»Ich glaube, Pauline Roth hat großes Potenzial«, sagte Constantin dessen ungeachtet.
»Wenn das so ist, dann schick deinen Protegé zuerst zu mir, sobald sie etwas kann.«
»Warum nicht?« Zufrieden, dass sein Plan aufzugehen schien, fügte er hinzu: »Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
Constantin wusste, dass er einen vertrauenswürdigen Verbündeten in diesem einflussreichen Mann hatte. »Es bleibt unter uns. Du hast mich hier nie gesehen und weißt von keiner Verbindung zwischen Pauline und mir.«
»Ehrensache. Deine privaten Eskapaden gehen mich nichts an.« Die eine oder andere dieser Eskapaden hatten sie gemeinsam unternommen, und Antonio konnte sich offensichtlich noch gut daran erinnern, denn er grinste und schlug Constantin auf die Schulter. »Wenn sie wirklich so ein Juwel ist, wie du glaubst, dann solltest du gut auf sie aufpassen. Der Opernbetrieb ist mörderisch. Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.«
Das Gespräch nahm eine zu vertrauliche Wendung, deshalb sah Constantin auf die Uhr. »Vielen Dank, alter Freund, ich muss weiter.«
»In Ordnung.« Antonio rasselte mit einem Schlüsselbund. »Komm, ich lasse dich vorne raus, damit dich dein Mädchen nicht noch
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