Gib mir deine Seele
Erstens singst du nicht im direkten Vergleich – obwohl ich keinen Zweifel habe, dass du den bestehen würdest –, und zweitens musst du ja erst einmal das Vorsingen bestehen, und dann sehen wir weiter. Du hast doch noch kein attraktives Angebot für die nächsten Wochen, oder täusche ich mich?«
»Nein, es gibt zwar Anfragen, und Marcella möchte, dass ich mich schnell entscheide, aber das sind alles Produktionen in den nächsten Jahren. Vorerst muss ich wohl damit vorliebnehmen, irgendwo einzuspringen.« Bereits während sie das sagte, wurde ihr bewusst, wie undankbar sie klang. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie überhaupt keine Angebote bekommen, und nun wurden ihr so fantastische Chancen geboten wie diese. Sie lachte verlegen. »Ich bin ja blöd. Natürlich singe ich vor, und dann sehen wir, was passiert. Diese Mrs. Middelton will aber hoffentlich nicht, dass ich eine von Elisabeths Arien singe? Die kann ich nämlich nicht.«
»Siobhan hat dich in Barcelona gehört und weiß, was du kannst. Es mag dir nicht aufgefallen sein, aber sie war auch bei Julians Premierenparty dabei, bei der du auf so bemerkenswerte Weise deine Fähigkeiten gezeigt hast. Ich denke, sie möchte dich einfach nur näher kennenlernen, um zu sehen, ob ihr gut zusammenarbeitet.«
»Darum wolltest du also, dass ich so schnell herkomme, damit ich für das Gespräch ausgeruht bin?«
»Siobhan ist sehr anspruchsvoll«, sagte er. »Durch deine Trödelei hätten wir in Hamburg beinahe keine Landeerlaubnis mehr bekommen.«
»Deshalb warst du verärgert?«
»Warum machst du es mir so schwer, Pauline? Ich habe wegen des Wetters deinen letzten Auftritt in Barcelona verpasst. Wir haben uns über eine Woche nicht gesehen. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich dich vermisst habe?«
»Es tut mir leid«, sagte sie und lehnte sich an ihn. Dass sie immer noch widerspenstig reagierte, wenn er sie im Unklaren über seine Pläne ließ, musste ihm wie Misstrauen erscheinen. Irgendwann würde sie darüber reden müssen. Aber nicht heute , dachte sie.
Wenig später lagen sie im Bett, von dem aus man ebenfalls über den See blicken konnte, der Alster hieß, wie Constantin ihr erklärte, und eigentlich nur ein verbreiterter Fluss war. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und gemeinsam sahen sie aus dem Fenster.
»Wie hast du so schnell diese Wohnung gefunden?«, fragte Pauline, denn in einem Hotel befanden sie sich nicht.
»Gehört einer Bekannten. Zurzeit lebt sie in Shanghai.« Er drückte seine Lippen auf ihren Nacken. »Wenn es dir hier gefällt, können wir so lange bleiben, wie wir wollen. Aber darüber reden wir morgen. Jetzt lass uns schlafen, Minette .«
Das Vorsingen stellte sich als gemütliche Plauderstunde mit Theaterbesichtigung heraus.
Siobhan Middelton gehörte zu den wenigen Dirigentinnen, die eine vergleichbar einflussreiche Position im Musikbetrieb innehatten. Die irische Abstammung der etwa Fünfzigjährigen schlug sich in glänzend rotem Haar und einem überschäumenden Temperament nieder. Pauline war sofort begeistert, und die Sympathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Als beide auch noch feststellten, dass ihre Familien aus der Gegend um Galway stammten, war es keine Überraschung mehr, als Siobhan zum Abschied sagte: »Es ist eine Chance. Ich schätze Anaya Hemera sehr und würde mir wünschen, schon für die Kasse unseres Hauses, dass es ihr bald besser geht. Doch momentan verlässt da selbst mich mein seherisches irisches Erbe. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich weiß aber genau, was geschieht, wenn wir diese wichtigste Produktion des Jahres gegen die Wand fahren oder gar absagen müssen. Anaya sieht das ebenso wie ich, und es wäre für uns alle eine große Entlastung, wenn wir wüssten, dass du jederzeit einspringen könntest. Ihr werdet beide gleich in die Probenarbeit eingebunden sein, und ich garantiere dir wenigstens einen Auftritt in der Rolle. Was sagst du?«
»Ich würde die Elisabeth wahnsinnig gern singen, aber ich möchte mich noch mit meiner Gesangslehrerin absprechen. Ist das für dich in Ordnung?«, fragte Pauline unsicher.
»Aber natürlich. Mit wem arbeitest du?«
»Elena Corliss.«
Siobhan pfiff durch die Zähne. »Ohne deren Einverständnis würde ich an deiner Stelle auch keine Entscheidungen treffen.« Sie lachte. »Sobald ich dein Okay habe, rede ich mit der Agentur.«
Pauline versprach, sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu melden und verließ bald darauf mit einem
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