Gib mir deine Seele
obendrein, was ihn zu einem idealen Partner der beiden Elisabeth-Darstellerinnen, Anaya und Pauline, machte. Als sie ihn einmal fragte, ob er sich Hamburgs Sehenswürdigkeiten angesehen habe, sagte er: »Von den meisten Städten kenne ich nur Hotels, Taxis und Apotheken.«
»Apotheken?«
»Du bist jung. Bald wirst du merken, dass sich in den letzten Jahrhunderten für uns Sänger nicht viel geändert hat. Wir mögen heute Hochleistungssportler sein, aber wir gehören zum fahrenden Volk. Das Reisen macht dich mit der Zeit fertig, der ständige Zeitwechsel, das Wetter … Ich gebe dir den guten Rat: Such dir einen vernünftigen Hals-Nasen-Ohren-Arzt, und trage immer einen Schal.«
Pauline zog ihr Lieblingstuch aus der Tasche.
»Da hilft es dir nicht, meine Süße.« Erstaunlich liebevoll nahm er ihr das Tuch aus der Hand und schlang es um ihren Hals. »Du hast eine große Karriere vor dir. Mach nicht denselben Fehler wie deine Lehrerin, achte auf dich!«
Sie wollte ihn fragen, was er über Elenas Vergangenheit wusste, das nicht in den Zeitungen gestanden hatte, doch die Pause war vorüber, und später ergab sich keine Gelegenheit mehr dazu.
Und nun lag dieser nette Mann also mit einem komplizierten Bruch im Krankenhaus und konnte nicht auftreten.
Es war nachvollziehbar, dass sich Siobhan Middelton am liebsten in Luft aufgelöst hätte, aber absagen konnte man natürlich nichts. Die Premiere würde live weltweit in den Kinos zu sehen sein, wie man es sonst nur von Aufführungen aus der Metropolitan Opera in New York oder vom weltberühmten Bolschoi Ballett kannte. Außerdem war die Produktion einer DVD geplant. Schon deshalb wäre es ein großes Unglück, sollte Anaya Hemera nicht auftreten können, denn die Klassikfans würden die Aufnahmen wegen ihr kaufen und nicht wegen einer unbekannten Aushilfs-Elisabeth.
Für Don Carlos musste unbedingt ein adäquater Ersatz gefunden werden, und als Pauline am nächsten Tag ihr Fahrrad neben dem Bühneneingang anschloss, rief jemand ihren Namen.
Sie drehte sich um, und ihr Herz machte einen Sprung. »Jonathan! Sag bloß, du bist mein Neuer?«, sagte sie und sah ihn erwartungsvoll an. Jonathan wäre in dieser Rolle seinem unglückseligen Kollegen absolut ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen.
»Ist es nicht tragisch? Nun habe ich gleich zwei Mütter, in die ich unglücklich verliebt sein muss.« Damit meinte er wohl seine Rolle in der Oper.
»Wir sind deine Stiefmütter«, korrigierte Pauline feixend. »Und wahrscheinlich hast du jeden Abend eine andere. Was sagt deine Frau dazu?«
»Die ist zweifellos verärgert, wir wollten einige Tage Urlaub machen. Aber ich kann euch doch jetzt nicht hängen lassen. Das hat sie dann doch verstanden.«
Sie lachten einmütig, bis Jonathan sie ansah und fragte: »Bei dir läuft es ausgezeichnet, wie ich höre. Dein Freund muss sehr stolz auf dich sein.«
Bald nach ihrer Ankunft waren sie gemeinsam essen gewesen und hatten sich gut verstanden. Jonathan und seine Frau waren ein sympathisches Paar, aber nicht nur älter als Pauline und auch Constantin, sondern sehr auf ihr Familienleben fixiert, sodass sich neben der Musik wenige Anknüpfungspunkte für eine tiefer gehende Freundschaft ergeben hatten.
»Keine Ahnung, ob er stolz auf mich ist. Seit wir verheiratet sind, sehen wir uns kaum noch.«
»Ach, jetzt habt ihr wirklich geheiratet? Herzlichen Glückwunsch!« Er umarmte Pauline genau in dem Augenblick, als eine Gruppe Orchestermusiker vorbeiging, die ihnen neugierige Blicke zuwarfen. Jonathan stöhnte. »Das wird wieder ein schönes Getratsche geben.«
Am Bühneneingang erfuhr Pauline vom Pförtner, dass ihre Kostümprobe abgesagt war. Die »junge Dame aus München« sei noch nicht eingetroffen. »Typisch Bahn«, sagte der Mann, als sie sich nach dem Grund erkundigte. »Irgendein Stromausfall kurz vor Hannover, soweit ich weiß.«
Pauline, die solche Probleme vom britischen Zugverkehr gewöhnt war, winkte ab, weil er sich dafür entschuldigen wollte, als sei die Verspätung seine Schuld. »Macht nichts«, sagte sie. »Dann gehe ich gleich in die Maske, die werden froh sein, wenn ich einmal nicht zu spät komme, weil die Kostümabteilung trödelt.«
Henry pendelte zwischen München und Hamburg, auch deshalb trafen sie sich meist nur im Theater. Vertragen hatten sie sich nach ihrem Streit zwar wieder, doch seit Henry von ihren Neigungen wusste, war die Freundschaft erheblich abgekühlt. Dennoch schämte sich Pauline für die
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