Gib mir deine Seele
Erleichterung, die sie darüber empfand, ihr heute nicht begegnen zu müssen.
Ich hätte nie angenommen, dass sie so spießig ist , dachte Pauline, die diese Entfremdung schmerzte.
Überhaupt nicht spießig war ihre neue Freundin Lilly. Sie besuchten immer noch gemeinsam ihre »erotische Tanzstunde«, waren allerdings inzwischen schon im Fortgeschrittenenkurs, der auch Poledance beinhaltete, was Pauline großen Spaß machte, seit sie nach anfänglichen Schwierigkeiten nun nicht mehr wie ein nasser Sack an der Stange hing. Da ihr zu Hause das geeignete Gerät fehlte, überlegten sie eines Abends in Lillys Lieblingskneipe unweit der Reeperbahn, auf welche Weise sie Constantin ihre neuen Talente am besten präsentieren könnte.
»Ich höre mich mal um«, versprach Lilly, und beide kicherten fröhlich.
Auch Elena war zwischendurch in die Stadt gekommen, um mit ihr an der Vorbereitung für die CD-Einspielung zu arbeiten, die demnächst in London stattfinden sollte. Sie sah immer noch blass aus und ermüdete schnell, doch sie weigerte sich, über ihren Zustand zu sprechen. Nicht einmal mit Constantin, wie es schien. Jedenfalls gab er vor, nicht zu wissen, was ihr fehlte. Ihre Disziplin allerdings blieb eisern.
»In diesem Beruf darf man nichts dem Zufall überlassen«, ermahnte sie Pauline. »Du musst weiter gewissenhaft an dir arbeiten. Noch hast du dein Ziel nicht erreicht.«
29 Hamburg – Die Feuerprobe
Am Morgen vor der Premiere sah Pauline aus dem Fenster und stöhnte. Die Wolken hingen so tief, dass sie die Alster kaum sehen konnte, alles war grau, und der Regen schlug Blasen auf dem dunklen Holz ihres Balkons.
Vorgestern in der nicht-öffentlichen Generalprobe hatte Anaya Hemera wunderbar gesungen. Sie und Jonathan waren auf der Bühne ein tolles Paar. Die Handlung der Oper basierte auf Schillers Don Carlos und war etwa 1560 in einem Spanien angesiedelt, das unter den Auseinandersetzungen von Kirche und Staat litt.
Don Carlos lernt Elisabeth de Valois in Fontainebleau bei Paris kennen, und die beiden jungen Leute verlieben sich ineinander. Bald darauf muss sich Elisabeth jedoch zwischen Staatsräson und Liebe entscheiden. Sie heiratet Philipp, den Vater von Don Carlos. In Verdis dunkelster Oper gibt es Intrigen, Freiheitsdrang und Betrug. Elisabeth erträgt ihre Situation mit großer Würde, während sich Don Carlos lange nicht mit der Situation abfinden will. Die beeindruckendste Arie singt Elisabeth im Duett mit Don Carlos, als sich die beiden Liebenden am Ende ihrem Schicksal fügen und voneinander Abschied nehmen wollen.
Pauline, die sich weit nach hinten gesetzt hatte, um der Kollegin nicht das Gefühl zu geben, von ihr beobachtet zu werden, bewunderte zum ersten Mal in aller Ruhe auch das Bühnenbild. Es wirkte düster und auf den ersten Blick schlicht, war aber wandelbar, ohne jemals mit Effekten zu kokettieren. Anayas Kostüm war so geschickt geschnitten, dass man der Sopranistin die Schwangerschaft nicht ansah. Henry hatte den Schnitt selbst angefertigt und damit eine wahre Meisterleistung vollbracht. Die Kostümgestaltung ist wirklich ihre wahre Berufung, dachte Pauline beeindruckt.
Für sich selbst indes mochte Pauline das Kleid am liebsten, das die Elisabeth zusammen mit einem fast bodenlangen Mantel im Schlussakt trug. Sie hatte schon überlegt, sich den Mantel nachschneidern zu lassen, sollte ihr diese Inszenierung Glück bringen.
Jetzt fange ich auch schon mit dem Aberglauben an , hatte sie gedacht und in der Tasche nach dem Mondstein getastet, den ihr Elena in Barcelona gegeben hatte. Die Mondkette trug sie ohnehin immer.
»Komm zurück ins Bett«, rissen sie Constantins Worte aus den Gedanken. »Es ist erst acht Uhr, und die Staatsoper ruft nicht vor drei an, ob sie dich brauchen oder nicht.«
»Ich kann nicht mehr schlafen«, sagte sie und schlang die Arme um ihre Knie.
»Das musst du auch nicht, ma petite chatte .« Constantin strich mit den Fingerspitzen über ihren bloßen Arm, und Pauline zitterte. »Wenn dir kalt ist, weiß ich ein ideales Mittel dagegen.«
Bereitwillig ließ sie sich unter seine Decke ziehen. Beim Sex verging die Zeit deutlich schneller als normalerweise. Das war genau das, was sie jetzt brauchte, und dazu einen Mann, dessen Berührungen sie alles andere vergessen ließen.
Das nächste Mal, als sie auf die Uhr sah, war es halb zwölf, und ihr Magen knurrte. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt, und sie hörte, wie Constantin etwas sagte. Ein dunkles Lachen
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