Gib mir deine Seele
jedem längeren Aussetzer Panik zu schüren.
Ohne Constantin war ihr Leben so einsam, manchmal wünschte sich Pauline, dieses wankelmütige Ding würde endlich Ruhe geben. Dann wieder war sie entschlossen zu kämpfen, den verfluchten Göttern die Stirn zu bieten. So absurd es klang, sie glaubte inzwischen, dass Constantin nicht verrückt war oder sie belogen hatte. Eine solche Geschichte kann man gar nicht erfinden und sich die Hauptrolle darin geben.
Noch viel wichtiger aber war, dass er ihr ein einzigartiges Geschenk gegeben hatte. Den Musenkuss. Er mochte sie ihre Seele kosten, doch ihm war es zu verdanken, dass sie die Herzen der Menschen mit ihrem Gesang berühren durfte.
Erst heute, hier in Venedig, fielen ihr Nicholas’ Worte wieder ein. »Es wird der Tag kommen, an dem du an allem zweifelst«, hatte er ihr prophezeit.
Allerdings , dachte sie nun.
Nicholas wusste also, wer oder was Constantin war. Und es waren seine Worte gewesen, dass ihr Mann sie mit einer Hingabe liebe, die er ihm niemals zugetraut hätte.
Bedeutete das womöglich, Constantin hatte irgendwelche Regeln verletzt und war deshalb so verzweifelt? Oder fürchtete er, sie zu verlieren? Unwahrscheinlich, dass er mit all den Künstlern, die in seiner Sammlung verewigt waren, eine ähnlich enge Beziehung geführt hatte wie mit ihr. Man hätte in der Literatur etwas darüber finden müssen. Aber wenn von Musen die Rede war, so sprach man im Allgemeinen von Frauen. Schöne, kluge, talentierte Frauen, wie ihre Namensvetterin Pauline Marie Croisette, die bekannte Lou Andreas-Salomé oder Alma Mahler, die ihre Geliebten inspiriert hatten. Über männliche Musen wurde, falls überhaupt, mit einem eher verächtlichen Unterton gesprochen. Sie galten häufig als Toy-Boys, Spielzeuge, derer sich Künstler bedienten. Etwas, das man Constantin gewiss nicht nachsagen würde.
Die einzige Möglichkeit , dachte Pauline, Antworten zu erhalten, wird sein, mit ihm zu sprechen. Als sie aber mit vor Kälte steifen Fingern das Handy aus der Tasche zog, entglitt es ihr und fiel in die Tiefe. Erschrocken beugte sie sich über das niedrige Geländer, sah ihm nach, wie es auf dem Dachsims aufschlug und in Einzelteile zersprang, die gleich darauf nicht weit hinter einer vorbeifahrenden Gondola im Rio dei Scoacamini versanken.
39 Venedig – Gib mir deine Seele
Während der letzten Tage hatte Constantin Gefühle erlebt, die er niemals mehr hatte empfinden wollen. Selbsthass, Resignation, Wut. Doch anders als damals bei Erato wurden sie nun begleitet von einem schier unerträglichen Schmerz und der Trauer, Pauline verloren zu haben. Mal war er mutlos und dachte daran aufzugeben. Dann wieder hielt er es mit Voltaire, der glaubte: »Es hat Verzweiflung oft die Schlachten schon gewonnen.«
Pauline aufzuspüren war nicht leicht gewesen, sie mussten diskret vorgehen, damit nichts an die Presse durchsickerte. Ihr Handy war nur bis Nîmes zu orten gewesen, und es hatte eine Weile gedauert, bis er den Laden ausfindig gemacht hatte, in dem man sich gut an eine schöne Frau erinnern konnte, die kurz entschlossen das erstbeste Prepaidhandy gekauft hatte, das man ihr anbot. Zudem erwies es sich als guter Schachzug von ihr, das Zugticket verschenkt zu haben. Es hatte Nicholas mehr als einen Tag gekostet dahinterzukommen.
Natürlich war sofort die Frage aufgekommen, wo der Wagen geblieben sein könnte. Er traute Pauline ohne Weiteres zu, ihn einfach mit dem Schlüssel irgendwo abzustellen, sodass nun ein anderer damit herumfuhr.
Letzten Endes hatten sie Marguerite teilweise einweihen müssen, die schließlich von Marcella die neue Telefonnummer erfahren hatte. Danach wäre es ein Kinderspiel gewesen, über die Agentin ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Schließlich gehörte ihm die Künstleragentur.
Bevor er jedoch zu solchen Mitteln greifen musste, erhielt Nicholas die Pressemitteilung des Teatro La Fenice. Pauline war also in Venedig, um dort die Partie der Violetta Valéry zu singen.
Die vom Wege Abgekommene . Diese Oper, die auf Alexandre Dumas’ Roman Kameliendame basierte, erzählte die Geschichte der Pariser Kurtisane Violetta, deren Liebe zu dem jungen Adligen Alfredo an gesellschaftlichen Konventionen scheitert. Sie verzichtet ihm zuliebe auf ein gemeinsames Glück und zieht sich dafür Hass und Verachtung des vermeintlich verschmähten Liebhabers zu. Als er die wahren Zusammenhänge erkennt, ist es zu spät. Violetta stirbt, von der Schwindsucht geschwächt, in
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