Gib mir deine Seele
an den geschlossenen Läden. Eine Stunde später sah sie sich die einzelnen Sequenzen der Oper ein zweites Mal an, ohne Ton, denn Jonathan hatte nicht übertrieben, der war unerträglich. Donizetti war nicht zu sehen, Luc Gaultier jedoch machte einen recht sympathischen und besonnenen Eindruck. Solange sie sich auf die Regie konzentrierte, musste sie nicht an Constantin denken. Im letzten Akt schlief sie ein.
Am Morgen wurde Pauline von einem heftigen Klopfen geweckt.
»Alles in Ordnung?« Jonathans Stimme klang gedämpft durch die Zimmertür.
Schlaftrunken stieg sie aus dem Bett und öffnete ihm. »Wie spät ist es?«
»Halb zehn.« Er trat mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem ein großer Becher mit dampfendem Kaffee stand. Croissants, Marmelade und Obst hatte er auch mitgebracht. »Ich wusste nicht, was du isst.«
»Ich bin gleich wieder da.« Sie raste ins Bad. Zähneputzen, schnell unter die Dusche. Zum Haarewaschen war keine Zeit mehr. Pauline drehte sich einen festen Knoten und hoffte, dass er halten würde. Ihre Reise-Jeans mit dem Riss und der schwarze Rollkragenpullover vom Vorabend mussten genügen.
»Uh, der Kaffee ist aber gut!«
Hastig leerte sie den Becher und biss in ein Croissant. Währenddessen zog sie bereits die schweren Bikerstiefel an, die sie sich auf der Tournee mit Kris’ Band als Ersatz für ihre alten gekauft hatte. Der dazu passende Ledermantel schien ihr am besten geeignet, vor dem Wetter und der Wiederbegegnung mit Donizetti zu schützen. In der Tasche steckte noch der Totenkopfring, den sie ebenfalls geschenkt bekommen hatte. Ohne lange zu überlegen, steckte sie ihn an den Finger. Im Rausgehen ließ sie noch einen Apfel in der Handtasche verschwinden und griff nach dem zweiten Croissant.
»Wir können los!«
Jonathan, der geduldig am Fenster gestanden und nach draußen gesehen hatte, drehte sich um. »Wow! Du siehst aus wie die einzig wahre Königin der Nacht«, sagte er und grinste. »Die werden Augen machen im Theater!«
Schlag zehn Uhr betraten sie den Probenraum, wo Donizetti schon auf sie wartete. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als er Pauline sah. »Endlich. Fangen wir an«, fauchte er und zeigte auf einen jungen Mann, der ruhig hinter ihm gestanden hatte. »Luc wird dir erklären, was du zu tun hast.«
Pauline lächelte kühl. »Fangen wir damit an, uns einen guten Morgen zu wünschen.« Sie begrüßte Luc Gaultier mit Handschlag. »Pauline Roth. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
Der Assistent war so überrascht, dass er einen Diener machte.
Pauline steckte die Hände in die Taschen ihres Mantels und ging zu Salvatore Donizetti, den sie um einige Zentimeter überragte. Mit erhobenem Kinn und der gleichen kühlen Arroganz, die auch Constantin zuweilen zur Schau trug, sah sie ihn an. »Ich erinnere mich genau an unsere letzte Begegnung, Donizetti.« Das Flackern in seinen Augen verriet die Unsicherheit. Wütend biss er die Zähne zusammen, die Nasenflügel blähten sich. Aber er sagte nichts.
Pauline drehte sich auf dem Absatz um und sagte mit einer weitaus freundlicheren Stimme: »So, nun können wir beginnen. Luc, ich bin ganz Ohr.«
Alle zuckten zusammen, als die Tür knallte. Donizetti hatte das Feld geräumt.
Zur Mittagspause kehrte Pauline mit Jonathan zum Hotel zurück. Sie gingen wieder in die kleine namenlose Trattoria und genossen ein ausgezeichnetes Essen.
»Dieses Restaurant versöhnt mich mit vielem«, meinte Jonathan und griff nach einem Stück Brot. »Wie du Donizetti zur Schnecke gemacht hast, das war sehr beeindruckend. Ich erinnere mich noch an das frisch geschlüpfte Paulinchen in Barcelona.« Er grinste. »Du wirst eine ganz große Diva, das garantiere ich dir. Die Stimme hattest du von Anfang an, und jetzt offenbar auch die passende Attitüde. Bravo.«
»Ach, nun übertreib nicht«, sagte Pauline. »Ich dachte nur, es ist besser, wenn er begreift, dass ich kein Opfer bin.«
»Davon bist du weit entfernt, meine Liebe. Den armen Luc Gaultier hast du auch schon um den Finger gewickelt. Er liegt dir zu Füßen.«
»Jetzt ist aber gut!« Sie musste lachen, da klingelte ihr Handy, und sie entschuldigte sich bei Jonathan. »Die Agentur.«
»Pauline, hier ist Marcella. Sitzt du? Falls nicht, dann such dir lieber einen Stuhl. Wir haben eine Anfrage von der Met. Sie haben aus irgendwelchen Gründen ihr Programm umgeschmissen und machen nächstes Jahr den Don Carlos . Rate mal, wen sie als Elisabeth haben wollen? Dich! Und jetzt halt
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