Gib mir mehr - Scharfe Stories
die Kabine ging.
Und tatsächlich ging er so nahe an ihr vorbei, dass sie sah, wie sich seine Nüstern beim Atmen blähten. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte er sie an, und dieser winzige Moment reichte aus, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Er hatte dunkelbraune Augen, aber die Pupillen fixierten sie wie Stahlbolzen.
Aus dieser Nähe hatte er ein so individuelles Gesicht wie jeder Mensch. An seiner Oberlippe verlief eine haarfeine Narbe, und eine dickere ging quer über seine Augenbraue. Für einen Mann hatte er kleine Ohren. Irgendwie passten sie nicht zu ihm, und deshalb blickte sie ihn etwas länger und intensiver an, als höflich gewesen wäre. Als sie schließlich einen Schritt zur Seite trat, um ihn vorbeizulassen, öffnete er leicht den Mund, als wollte er etwas sagen. Seine Lippen waren weich und einladend, wie braune Satinkissen. Holly blickte ihm wie gebannt hinterher.
Nach dieser kurzen Begegnung wusste sie, was sie wollte. Vergiss Obrenovic oder Douglas – sie würde Virgil McIntyre interviewen.
Sie folgte den übrigen Reportern – die wahrscheinlich noch auf der Suche nach wichtigen Details für ihre Storys waren – zu den Umkleidekabinen. Als die Letzten von ihnen endlich weg waren, schlich sie den Flur entlang zum Eingang der Kabinen. Dort wartete sie versteckt im Schatten, bis die Spieler geduscht hatten. Einer nach dem anderen kamen sie heraus, die Sporttaschen lässig über die Schulter geschlungen, und gingen zum Bus, der sie ins Hotel bringen sollte.
Würde ihr Plan aufgehen? Sie zählte sie ab und stellte fest, dass nur noch einer in der Umkleide war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das konnte niemand anderer als Virgil McIntyre sein. Rasch schlüpfte sie hinein, und da stand er und knöpfte gerade seine dunkle Jeans zu. Sein Brustkorb glänzte noch feucht vom Duschen. Um seinen Hals hing ein nasses Handtuch.
Als er sie erblickte, runzelte er ungehalten die Stirn und durchbohrte sie mit seinen schwarzen Pupillen. Sie spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Aber auch er war unsicher, was sie von ihm wollte. Holly holte ihren Notizblock heraus. So selbstbewusst und professionell wie möglich fragte sie, ob er etwas dagegen habe, wenn sie ihm ein paar Fragen zum Spiel und dem Sieg über die kroatische Mannschaft stelle.
Virgil zuckte lässig mit den Schultern und wischte sich mit dem Handtuch die Wasserperlen von der Brust. »Schießen Sie los, Ma’am!«
Holly fluchte im Stillen, dass sie so gar keine Erfahrung mit Interviews hatte. Von Angesicht zu Angesicht fand sie es schwieriger, als sie gedacht hatte. Was sollte sie jetzt fragen? Ob Virgil McIntyre erwartet hatte, dass die Warriors gewannen? Das war eine blödsinnige Frage, aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.
»Ja, klar, ich wusste, dass die Warriors gewinnen würden«, erwiderte er.
Sein Akzent klang nicht direkt amerikanisch, aber auch nicht englisch, und seine tiefe, weiche Stimme klang beinahe zu samtig für so eine Kraftmaschine. Ihre Konzentration wanderte von Virgils Worten zu seinen Lippen.
Plötzlich sehnte sie sich danach, ihn zu küssen. Ihr Blick glitt zu seiner Brust, und auf einmal merkte sie, dass er gar nichts mehr sagte, sondern sie mit drohend gerunzelter Stirn anblickte. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, er würde sie hinauswerfen. Offenbar hatte er gemerkt, dass sie gar keine richtige Journalistin war. Warum hatte sie sich auch keine überzeugendere Frage ausgedacht? Und warum hatte sie sich nicht auf seine Antwort konzentriert?
Sie sackte in sich zusammen, als er sie mit seinem stählernen Blick musterte. Und dann glitt zu ihrer Überraschung auf einmal ein Lächeln über sein Gesicht. Seine Miene wurde freundlich, und er brach in lautes Lachen aus.
Erleichtert seufzte Holly auf. Seine Augen funkelten mutwillig, und er hatte die Augenbrauen spöttisch hochgezogen. Sie hatte befürchtet, dass er kühl und gemein sein könnte und dass es ein Fehler gewesen wäre, ihm zu nahe zu kommen, aber anscheinend fand er eine Frau, die sich in die Männerumkleide traute, eher amüsant.
In diesem Moment trat Virgil einen Schritt auf sie zu, legte ihr seine große, viereckige Handfläche an den Nacken und beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen.
Ihr erster Impuls war, sich zu wehren und ihm zu erklären, er hätte das falsch verstanden, deswegen wäre sie nicht hierher gekommen. Aber als sich seine Lippen auf ihre
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