Gib mir Menschen
geschlossenen Augen sieht. Das ist ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Ich war mir meiner Augen wieder bewußt, auch wenn ich sie im Moment noch nicht gebrauchen konnte. Das gleiche war es mit den anderen Sinnesorganen. Nase und Ohren waren da und waren aktiv, auch wenn sie die gewonnenen Eindrücke noch verfälscht weiterleiteten. Das heißt eigentlich, daß die Koordination zwischen Nervensystem und Sinnesorganen noch nicht recht funktionierte. Nach einer so langen Trennung eigentlich kein Wunder. Aber das Zusammenspiel zwischen Geist und Körper pendelte sich ein.
Was für ein Unterschied, ob man sich von einem Phantomkörper täuschen läßt, oder ob man seinen wirklichen Körper bis in die Fingernägel hinein spürt.
Nun lebe ich also wieder. Man hat mich zusammengeflickt und geweckt. Nach wie langer Zeit? Was werde ich zu sehen bekommen, wenn man mir die Augenbinden abnimmt? Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich auszumalen, daß mein Kopf wie der einer Mumie einbandagiert war. Nicht unbedingt mit Verbandszeug, möglicherweise auch mit synthetischem Biplasma. Beschleunigte gewiß den Heilungsprozeß. Immerhin war das die Zukunft, wie fern oder nah sie meiner Zeit auch war. Der Fortschritt blieb nicht stehen.
Keine Schmerzen zuerst. Erst nach und nach wurde das vorerst als angenehm empfundene Kribbeln zu einem unangenehmen Pochen, das den ganzen Körper erfaßte. Dann lokalisierte sich der Schmerz in meinem Kopf.
»Tempe’tua!«
»Fiba.«
Die Stimmen in meinen Ohren klangen noch verzerrt. Es hörte sich an, als würde jemand mit einem Kloß im Mund sprechen.
»Nimab Ve’band.«
»z’früdablind!«
Automatisch korrigierte ich das Gehörte und gab den Worten ihre richtige Bedeutung. Ich konnte dem Dialog mühelos folgen. Da wollte jemand meine Körpertemperatur wissen, und ein anderer antwortete, daß sie noch erhöht sei und ich Fieber habe. Die erste Stimme schlug daraufhin vor, meinen Verband abzunehmen, woraufhin die zweite zu bedenken gab, daß dies zu früh sein und meinem Augenlicht schaden könnte. Warum nahm man mir nicht trotzdem diese verdammte Binde ab und verdunkelte dafür den Raum?
»Oke! Machma.aba ’f dene Vean’wung.«
Da wollte sich jemand vor der Verantwortung drücken. Je besser mein Gehör wurde, desto schwerer fiel es mir seltsamerweise, das Kauderwelsch zu verstehen. Die Sprecher schienen keine Betonung zu kennen und leierten alles in einem Schwung herunter. Die Veränderung der Sprache machte mir an sich weniger Schwierigkeiten als die Monotonie des Vortrags.
Ich versuchte, etwas zu sagen, aber mein Mund war wie tot, die Lippen völlig taub, nur die Zunge vermittelte mir das Gefühl, eine aufgequollene Schnecke im Mund zu haben. Ich brachte bloß ein Krächzen zustande.
»Maul’alten!« Das klang sehr barsch.
Jemand fummelte an meinem Kopf, hob ihn leicht an. Ein Schwindel erfaßte mich, und es war, als würde ich einen Hang hinunterrollen und rotierend in einen Abgrund stürzen. Aber das verging wieder. Dafür drückte etwas schwer auf meine Augenlider. Hatte da irgend jemand vom Verdunkeln gesprochen?
»’fpaßt ’chlaßlos.«
Der Druck auf meine Augen ließ nach, und ich stemmte mich mit den Lidern dagegen. Auf einmal hatte ich die Augen offen. Das Licht tat weh. Kreise tanzten vor meinen Augen, ich schloß sie wieder, blinzelte – das Pochen in meinem Schädel wurde schmerzhafter. Dabei war mir, als würden meine Glieder unkontrolliert zucken.
»Nu’ruhig.«
Und dann sah ich und schrie. Es war ein unglaublicher Schock, als ich auf einmal wieder das Foto des »Mailänder Babys« vor mir sah. Ein unnatürlich großes Gesicht ohne Stirn, einen flachen, geradezu brettebenen Schädel, haarlos, wie skalpiert, aber gerade wie mit dem Lineal gezogen, hinten keine Ausladung, sondern gerade in den Nacken übergehend. Augen und Nase zu weit oben, weit über der Gesichtsmitte, eine lange, geschwungene Rotzrinne führte zur überhängenden Oberlippe, die sich über die Unterlippe stülpte, und dann ein langes, kantiges Kinn, zu beiden Seiten von den Hälften eines kräftigen, stark ausladenden Unterkiefers flankiert. Was für Kiefer, wie von einem Raubtier! Kleine, eng beisammen liegende Augen in einem überdimensionalen Gesicht! Ein dümmlich wirkendes Grinsen. Ein perlender Tropfen glitt die lange Rotzrinne hinunter, Speichel sickerte aus dem Mundwinkel, wurde geräuschvoll wieder eingesogen. Und dann die Stimme, guttural.
»Na’schatz inornung?« Das
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