Gib mir Menschen
Der Masseur sollte mehr darauf schauen, als mich liebevoll abzutätscheln. Ich bin noch nicht einmal kräftig genug, mich abzustützen.«
»Nix wicht’g«, schaltete sich da eine zweite Stimme ein. »Nix brauch Muskln, nix umanandgeh nix gesund, Klana.«
Der neu hinzugekommene Hauptlose war fast ein Ebenbild des anderen. Auch er war völlig haarlos, sie unterschieden sich nur durch ihre Aussprache. Jeder gebrauchte einen anderen Dialekt, und jeder hörte sich wie ein Mischmasch aus verschiedenen Dialekten an. Es schien keine einheitliche Sprache zu geben, von irgendwelchen Ansätzen zu Hochdeutsch ganz zu schweigen, so daß ich mutmaßte, daß es vermutlich auch gar keine Schriftsprache gab. Ich hatte schon gut ein Dutzend Hauptlose kennengelernt, und ein jeder sprach so, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Der zweite Flachschädel sprach wie ein Ausländer, der Deutsch in irgendwelchen Großstadtslums aufgeschnappt hatte.
»Ich bekomme immer mehr den Eindruck, daß ich falsch behandelt werde«, beschwerte ich mich. Meine Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen, denn das Sprechen ermüdete mich noch zu sehr. Aber das wollte ich noch unbedingt loswerden: »Ich möchte einen Arzt sprechen. Und ich verlange Aufklärung. Bis jetzt hat es noch niemand der Mühe wert gefunden, mich über meinen Zustand oder die allgemeine Lage zu informieren. Wen ich auch frage, alle machen Ausflüchte. Ich bestehe auf einem Arzt.«
Die beiden Mailänder grinsten einander an, und ich befürchtete schon, daß sie sich als Ärzte zu erkennen geben würden. Aber der wienerische sagte:
»Kummt no, nua Gedujd.«
Dann gingen sie. Der Masseur kam und tätschelte mich. Diesmal beobachtete ich ihn genauer und gewann den Eindruck, daß es ihm ein abartiges Vergnügen bereitete, wenn er meinen Körper abgreifen konnte. In seinen Augen war dabei ein geradezu lüsterner Ausdruck. Nun bemerkte ich auch, daß hinter seiner scheinbar sinnlosen Abtasterei doch eine Methode steckte. Ich hatte überall am Körper blaue Flecken, Blutergüsse und Druckstellen, und die behandelte er. Gerade so, als ob meinen Betreuern mehr an meiner äußeren Erscheinung lag als an meiner physischen Wiederherstellung.
Auf einmal kamen seine Hände über meinem Herzen zum Ruhen. Er stand mit geschlossenen Augen da, sein einfältiges Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck. Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. Plötzlich, als sei er aus einem verbotenen Traum erwacht, zog er die Hände mit einem Ruck zurück und stürzte fluchtartig davon. Obwohl ich nicht wußte, was das zu bedeuten haben mochte, beschlich mich eine tiefe, kreatürliche Furcht, die mir Schüttelfrost verursachte.
»Gu’ Moagn, Bubi! Bin Poido.«
Der Mailänder, der sich zu mir ans Bett setzte, hatte dichtes Haupthaar, das mit den Augenbrauen verwuchs. Er bleckte nach jedem Wort sein eindrucksvolles Gebiß: er hatte lange, gelbliche Zähne, die unten spitz zuliefen. Damit hätte er vermutlich einen Ochsen reißen können. Wenn er nicht sprach, machte sein Kinn mahlende Bewegungen, und ich hörte die Zähne knirschen. Er kaute irgend etwas, durch die Lücken zwischen seinen Zähnen troff bräunlicher Schleim, den er schlürfend einsog.
»Sind Sie Arzt, Poido?« erkundigte ich mich.
»Bini Scheff.« Er machte mit seinen Armen eine alles umfassende Bewegung. »Scheff vo gaunz Loga. Du mi wolln?«
»Sind Sie der Chefarzt, oder der Direktor des Unsterblichkeitszentrums?« fragte ich, absichtlich diese Begriffe verwendend, denn es gefiel mir absolut nicht, daß er sich als Chef eines »Lagers« bezeichnete. Damit assoziierte ich unwillkürlich »Lagerverwalter« und »Vorratsdepot«, was mir äußerst unangenehme Synonyme in bezug auf uns Tief Schläfer waren.
Mein Gegenüber nickte nur. Seinem verständnislosen Gesichtsausdruck nach zu schließen, wußte er nicht recht, was ich meinte. Ich beschloß deshalb, mich wieder einfacherer Formulierungen zu bedienen, denn es brachte mir ja nichts ein, wenn wir aneinander vorbeiredeten. Ich brauchte Informationen.
»Sie sind also der Chef, Poido«, stellte ich fest.
»Kloa, Bubi.«
»Mein Name ist Daniel Hummer, das müßten Sie wissen.«
»Oke, Daniejuma.« Er machte ein verdrießliches Gesicht. »Wa’eijenlos?«
»Ich möchte einige Auskünfte«, antwortete ich, weil ich annahm, daß er wissen wolle, was eigentlich los sei. »Welches Jahr schreibt man? Wie lange lag ich im Kälteschlaf? Wie sieht die Erde aus? Was ist aus den anderen
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