Gibraltar
offene Positionen hat. Wir haben Geld aus den Immobilienfonds und den Zweckgesellschaften umgeschichtet. Wir mussten jede Möglichkeit nutzen. Glaub mir, wenn ich noch irgendwo einen Schlupfwinkel sehen würde …«
»Aber das ist nicht möglich«, sagte sie empört. »Ich bin über alle Investitionen der Stiftung informiert!«
Er setzte seine Brille ab und begann, die Gläser mit seinem Taschentuch zu polieren. »Mit Verlaub, Helene, das bist du nicht. Ich bin der Generalbevollmächtigte der Bank, damit habe ich die Gesamtverantwortung.«
Sie war überzeugt, Feldberg nicht richtig verstanden zu haben. »Was?«
»Ich verstehe, dass du dich um die Stiftung sorgst, dass du viel zu tun bereit bist, um sie zu erhalten. Ich weiß dein Engagement wirklich zu schätzen. Aber ich denke in erster Linie an die Bank.«
»Das tue ich auch«, sagte sie, oder wollte es sagen. Seit langer Zeit zum ersten Mal war sie durcheinander. Die Stiftung war ihr Werk. Sie war ihre Idee gewesen, ihre Form der Abbitte. Ihr Lebenswerk.
»Ich habe Lasch, Hafer-Lorisch und ein paar der Niederlassungsleiter herbestellt«, sagte Feldberg jetzt weiter. »Dazu den Aufsichtsrat. Ich dachte, es sei eine gute Idee, gleich beisammen zu sein, wenn der Notar hier war.«
Sie schüttelte den Kopf, wie um sich zum Aufwachen zu zwingen. Doch sie war bereits wach. Sie hatte gehört, was Feldberg gesagt hatte: Er hatte ihr eben eröffnet, dass das alles lediglich ein Spiel gewesen war. All die Jahre. Dass das Leben, das Helene sich erarbeitet hatte, nicht ihres war; dass, wann immer sie eine Anordnung gegeben hatte, Feldberg hinter ihr sie durch ein Handzeichen entweder verworfen oder bestätigt hatte. Dass all ihre Unabhängigkeit eine Illusion war.
Und noch während sie paralysiert war von dieser Erkenntnis, bemerkte sie, wie ein unpassendes, aber betörendes Gefühl der Freiheit sich ankündigte, vergleichbar dem, das sie vor Jahrzehnten in Stuttgart empfunden hatte, als sie jene Hotels des Nachts durch ihre Hinterausgänge verlassen hatte. Freiheit. Die Versprechungen, die alle die Männer in ihrem Leben ihr jemals gemacht hatten oder hätten machen können, hatte sie im Voraus ausgeschlagen. Niemals hatte sie zugelassen, verletzt zu werden; sie war allen zuvorgekommen. Allen. Auch Johann.
Langsam und vorsichtig stand sie von dem Kanapee auf und strich ihren Rock glatt. Feldberg musste bereits eine ganze Weile gestanden haben, zum Gehen bereit; offenbar hatte er mehrfach ihren Namen genannt. Ebenso wenig wie all die Antiquitäten in diesem Haus erkannte sie plötzlich den Generalbevollmächtigten als jemanden wieder, mit dem sie in enger Vertrautheit gelebt hatte. Das Wort Vertrautheit hallte in ihr wider wie eine Pointe ohne Witz. Sie hatte nie zu jemandem gehört. Sie hatte nie etwas besessen.
Ohne Feldberg noch einmal anzusehen, wandte sie sich zur Tür und öffnete sie. Obwohl es durchaus Grund dazu gegeben hätte, war sie nicht empört, dass Thomas offenkundig daran gelauscht hatte. »So«, sagte sie nur. »Du hast alles gehört.«
»Ich wollte … zur Toilette«, stammelte Thomas.
Sie hatte immer gewusst, was zu tun war. Ebenso wie Künstler Inspirationen hatten oder Unternehmer Geschäftsideen oder Erotomanen Lust, hatte sie von jeher über das unbezweifelte Wissen verfügt, wie ihr nächster Schritt aussehen würde. Es war ihr Talent; etwas, das ihr niemand nehmen, das sie niemals würde verlieren können. Wohin sie auch ging, wen immer sie zurücklassen musste: Dies konnte sie mitnehmen.
Sie sah aus dem Dielenfenster auf die Straße. Gudvang war noch immer dort. Sie nahm ihren Mantel und ihre Schuhe.
»Wo gehst du hin?«, fragte Thomas erstaunt.
»Ich mache ein paar Schritte«, antwortete sie.
CARMEN
1
M ein Roman spielt in der Welt meiner Kindheit. Der untergegangenen Welt meiner Kindheit. Oder sagen wir, noch genauer, er spielt nicht in dieser Welt, sondern er handelt von ihr. Sie ist zu einem Ort der Sehnsucht geworden, unerreichbar.«
Der Mann war vielleicht Mitte fünfzig. Als sie dem langen Gang gefolgt war, hatte sie ihn zwischen all den anderen Passagieren gleich bemerkt. Sein knittriges Jackett kleidete ihn wie einen bosnischen Autohändler, über die Wangen lief ein totes Wurzelwerk geplatzter Äderchen. Ein kleiner Ohrstecker sollte ihn wohl jünger wirken lassen, bewirkte aber das Gegenteil. Sie hatte gedacht: Niemals möchte ich den ganzen Flug über neben diesem Kerl sitzen. Doch ein anderer Teil von ihr dachte:
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