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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Gudvang freundlich an. »Man kann es auch sportlich betrachten. Mein Mann ist zum Beispiel jemand, der sich nur in Ausnahmesituationen richtig lebendig fühlt. Das vor allem hat mich von Anfang an zu ihm hingezogen. Ich bin genauso.« Sie trank noch einen Schluck Champagner; er stieg ihr zu Kopf, doch sie genoss es. »Was sind denn diese täglichen Glücksspiele mit riesigen Beträgen anderes als eine einzige große Herausforderung des Schicksals?«
    Gudvang schnaufte verächtlich. »Vor allem des Schicksals anderer Menschen. Warum kann er nicht mit seinem eigenen Schicksal spielen? All diese Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet …«
    »Vielleicht ist dieses Risiko ja der wichtigste Teil der Geschichte«, unterbrach sie ihn. »Vielleicht schafft das erst seine, seine …   Fallhöhe : die Tatsache, dass letztlich   Menschen   daran hängen. Dass er sich damit zum Herrn und Meister über Menschenschicksale macht, mit all der Verantwortung, mit all der Tragik, die eine solche Macht mit sich bringt …«
    »Hören Sie, Frau, äh, ich weiß ja nicht, in welcher Welt Sie leben, aber –«
    Sie hatte nicht die geringste Lust, mit diesem Mann Weltanschauungen auszutauschen; sie flog hier schließlich nicht einfach in   Urlaub . In ihrem Koffer im Bauch dieses Flugzeuges befanden sich sämtliche Dinge, die ihr wichtig waren und die sie nicht zurücklassen wollte: zwei Fotos ihres Vaters und eines des tschechischen Anwesens, von dem ihre Mutter herstammte; eine Perlenkette und der Ehering ihrer Mutter; Tagebuchaufzeichnungen, die sie über Jahre angefertigt hatte; sowie natürlich das Notwendigste an täglicher Garderobe. Alles andere würde sich kaufen lassen. Jetzt, in diesem konkreten Augenblick ihres Lebens, hoch über den Ausläufern der Pyrenäen, am 29. April um 13.54 Uhr mitteleuropäischer Zeit, wusste Carmen nicht, ob sie jemals wieder in ihr Haus in Bad Homburg zurückkehren würde.
    »Wissen Sie, ich bin fremdgegangen«, sagte sie jetzt.
    »Wie bitte?« Gudvang, der sich offenbar eben gesammelt hatte, um eine Tirade gegen alles und jeden vorzubringen, der sich im Leben geschickter angestellt hatte als er, blinzelte, als hätte Carmen ihn geohrfeigt. »Sie sind …«
    »Fremdgegangen, ganz richtig. Zumindest hatte ich das vor.«
    »Sagten Sie nicht gerade, wie dicke Sie mit Ihrem Mann sind?«
    »Richtig. Genau deswegen habe ich es ja getan.«
    »Dass sich das jetzt unsinnig anhört, ist vermutlich Absicht, oder?« Sie genoss die Verwirrung, in der sie Gudvang nun eine Weile zappeln ließ. Natürlich war es paradox, und sie beabsichtigte auch nicht, Gudvang ihr Seelenleben vollständig zu öffnen. Doch er schien zu sehr seinen Stereotypen verhaftet, um zu ermessen, was für ein Mensch sie war und in welch einer vollkommen ungewöhnlichen, ja einzigartigen Situation sie sich befand. Sie würde ihm nicht erzählen, dass sie sich bereits seit Jahren über Internetportale mit Männern zu Blind Dates traf. Sie würde es ihm nicht erzählen, weil es für ihn nur ein unverständlicher Widerspruch sein würde. Er würde denken, sie sei die gelangweilte Ehefrau eines schwerreichen und immer abwesenden Geschäftsmannes, die sich in ihrer reichlich bemessenen Freizeit lüsternen Ausschweifungen hingab. Dass die Erfahrungen, die sie auf diese Weise machte, einen weitaus tieferen Grund hatten, würde sie ihm nicht erklären können, und der Grad ihrer Bekanntschaft rechtfertigte auch in keiner Weise, es überhaupt zu versuchen.
    Was stimmte, war, dass Bernhard sie oft allein ließ, und dies, leider, in immer größerem Maße auch dann, wenn er körperlich anwesend war. Seit Manuels Tod mussten sie beide dunklen Kräften entgegenwirken, die sie einander entfremden wollten; und sie beide hatten beschlossen, es auf unterschiedliche Art zu tun. Bernhard hatte sich mehr in sich zurückgezogen und kam nur dann aus sich hervor, wenn Leidenschaft ihm die Tür dazu öffnete. Sie wusste, er fühlte sich oft wie in einem Kerker, in den ihn sein Verantwortungsgefühl, seine berufliche Sorgfalt, auch seine Trauer sperrte. Aber wie sie war er ein sinnlicher, körperlich stark empfindender Mensch; und nach all den Jahren ihrer Ehe, so wusste sie, hatte sie noch immer die Macht, ihn auf ihre Seite des Lebens zu ziehen. Er war ein Mann, der manchmal zu seiner Lust gezwungen werden musste; aber, und das war das Entscheidende: Er war ein Mann, der sich nicht zu entziehen vermochte, wenn eine in der Liebeskunst versierte Frau ihm

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