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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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zu seinem Glück verhalf.
    »Wissen Sie, wir haben eine offene Beziehung. Nicht so wie andere Leute. Wir beschäftigen uns nicht mit der Frage, wer mit wem schläft und wieso. Wenn Sie meine Meinung wissen wollen: Ich glaube, dass diese Frage überschätzt wird. Dass unsere gesamte monogame Ehekultur ein tragischer Irrtum ist.«
    »So«, sagte Gudvang.
    »Es ist ganz natürlich, seine Bedürfnisse auch mit anderen Menschen auszuleben. Seinen Horizont zu erweitern. Zu lernen.«
    »Was wollen Sie denn beim Pimpern lernen?«
    »Sie würden sich wundern.«
    Natürlich ging es um mehr als das bloße Lernen. Es ging um die Sehnsucht, die sie durchflutete, wenn sie nach ihrem Abenteuer, im Morgengrauen, das Hotel verließ und sich mit dem Taxi zurück nach Bad Homburg bringen ließ. Wenn sie erfüllt war von jener süßen Schuld, die sie förmlich nach Hause riss, zu Bernhard.
    Sie liebte dieses Gefühl. Sie war dann ganz von sich enthoben, fast, als würde sie sich selbst hintergehen und sei damit von der Pflicht befreit, sich verantwortlich zu fühlen für das, was sie tat. Es war unvernünftig, es war das Gegenteil dessen, was man von ihr als erwachsener Frau erwartete. Der Einsatz, der auf dem Spiel stand, steigerte ihre Erregung nur ins Unermessliche. Sie nahm an, dass es Bernhard tödlich verletzen würde, wenn er davon erführe, und dass all ihre Beteuerungen, sie habe es letztlich für sie beide getan, nichts nützen würden. Und deswegen war es absolut unabdingbar, dass sie sich unsichtbar machte, während sie sich zu den vereinbarten Treffpunkten bewegte, so unsichtbar, wie sie es in den Jahren mit ihrem Vater gewesen war, wo sie beide nicht sicher sein konnten, ob sie nicht bereits von Spitzeln entdeckt worden waren. Sie zahlte alles in bar, sie trug keinen Ausweis bei sich, nichts, das einen Rückschluss auf ihre Identität zuließe. Diese Anonymität hüllte sie ein wie ein Kokon, der sie schützte und sogar wärmte. Das Entscheidende war, dass sie sich darin nicht einmal wie sie selbst fühlte, sondern wie eine Figur, jemand, der völlig anderen moralischen Maßstäben und inneren Gesetzen folgt; der frei ist.
    Auch diesmal war alles sehr genau vorbereitet gewesen. Sie hatte sich auf der Homepage der Seitensprungagentur unter einem falschen Namen angemeldet; hatte während ihres kurzen E-Mail-Verkehrs mit   gordon_gekko   keinerlei Einzelheiten über ihre privaten Lebensumstände erwähnt; war mit der S-Bahn statt mit dem Auto in die Stadt gefahren, hatte das Ticket und später den Chai im Le Parc, mit dem Sie sich die Wartezeit bis zum anberaumten Treffen verkürzt hatte, in bar bezahlt. Sie war absolut sicher gewesen, dass sie alles getan hatte, was zur Geheimhaltung erforderlich war. Und dennoch: Als sie mit flirrendem Herzen unmittelbar vor der Schwelle des Zimmers stand, ergriff ein ungekanntes Vorgefühl von ihr Besitz. Sie blickte den langen, stimmungsvoll beleuchteten Hotelkorridor entlang, der verlassen und still vor ihr lag. Niemand ahnte, dass sie hier und im Begriff war, die befestigte Hauptstraße ihres Lebens in Richtung dunkler, abgründiger Gefilde zu verlassen. Schon dieser Gedanke allein war elektrisierend. Dann genoss sie den Moment, vor dem sie an die Tür klopfen würde, den Moment, in dem sie allen Mut zusammennahm, um diesen letzten, irreversiblen Schritt zu tun und sich in ein sexuelles Abenteuer mit einem Fremden zu stürzen. Jemanden, den sie vielleicht attraktiv fand, vielleicht aber auch nicht. Sie hatte sich für eine neue Zukunft entschieden; und sie würde sich in dem, was sie bringen würde, zurechtfinden.
    Einen endlos gedehnten Augenblick hatte es gedauert, bis sie beide die unbegreifliche Konstellation verarbeitet hatten, einen zeitlosen Augenblick, in dem sie sich wie erstarrt zu beiden Seiten der Hoteltür ansahen.
    »Sie haben in diesem Hotelzimmer wirklich … Ihren   eigenen   Mann getroffen?«
    Niemals in ihrem Leben hatte sie etwas Vergleichbares erlebt; und niemals wieder, dachte sie, würde sie in solcher Intensität spüren, was sie dort gespürt hatte.
    »Du bist es«, hatte sie zu ihm gesagt und war ihm in das Hotelzimmer gefolgt.
    Du , hatte Bernhard gesagt, mit rauer Stimme. Augenblicklich hatte sie gespürt, wie ihr beinahe die Knie einbrachen, so sehr traf sie sein Blick. Sie würde sich für den Rest ihres Lebens an diesen entdeckenden, entlarvenden Blick erinnern. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie sich von Bernhard gesehen gefühlt, wirklich  

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