Gibraltar
um eine zu rauchen, und lässt sich extra viel Zeit damit. Die Straßen sehen aus wie leer gefegt, und auch ihren Kopf sieht Valerie leerer und leerer werden. Sie hat die diffuse Erwartung, dass sich ihre Mutter jetzt um alles kümmern wird, schließlich ist Bernhard ihr Mann und so, und jeder, mit dem sie darüber gesprochen hat, kann ihr bestätigen, dass solche Sachen immer die Eltern unter sich ausmachen sollten, auch und besonders dann, wenn es dabei um 40 Millionen Euro geht. Das ist jedenfalls die Summe, die Thomas ihr genannt hat. Das ist so absurd viel Geld, dass sie eigentlich nicht davon ausgeht, es handle sich hier um irgendetwas Wirkliches, und das ist auch genau der Grund, weswegen sie mit der ganzen Sache nichts zu tun haben will. Es ist lächerlich. Lächerlich und langweilig. Vielleicht sollte sie einfach sagen: »Hört mal, Leute, ihr habt eure Probleme, ich hab meine, deswegen bin ich raus, schönen Tag noch, und danke für den Fisch«, und wie sie da so sitzt und der Stimme zuhört, die in die beginnende Leere ihres Kopfes hineinspricht, da stellt sie fest, dass die Stimme schon seit einer ganzen Weile ihre eigene ist.
Als sie wieder drinnen ist, sagt Thomas gerade: »Ich habe noch nicht ganz verstanden, wie Sie überhaupt auf mich gekommen sind.«
Ihre Mutter scheint froh zu sein, über etwas reden zu können, ohne Bernhard dabei anzusehen, der sich für nichts anderes interessiert als das Muster der Plastiktischdecke. Der Kellner kommt, und ihre Mutter bestellt nach einer etwas umständlichen Fragerunde, die sie sichtlich genießt, das Essen in fließendem Spanisch, und Valerie kann sehen, wie sie gleich etwas gerader auf ihrem Stuhl sitzt und wahrscheinlich darauf wartet, dass sie jetzt irgendwer beglückwünscht.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragt sie, als die Glückwünsche ausbleiben.
»Ich wollte wissen, wie das gelaufen ist«, sagt Thomas. »Sie sagen also, es habe in der Bank ein Budget gegeben.«
Sofort nutzt ihre Mutter die Gelegenheit, nach ihrem Bestellerfolg in ein unverfängliches Gespräch mit Bernhard einzusteigen, sie dreht sich zu ihm und sagt: »Ja, Bernhard, du weißt das doch, wie das bei euch lief mit der Supervision.«
Bernhard, tief in sich selbst vergraben, buddelt sich langsam an die Oberfläche. »Weiß ich nicht.«
»Na, ihr konntet doch Supervision buchen, du hast doch mal den Flyer mitgebracht. Dadurch bin ich ja überhaupt erst …«
»Ich hab das nie gemacht.«
»Nein, darum geht es ja auch nicht. Es geht ja nur darum, dass Thomas wissen will – ich darf Sie doch jetzt Thomas nennen? –, dass er also wissen will –«
Thomas schüttelt abwesend den Kopf. »Schon gut. Ich glaube, ich will’s gar nicht wissen.« Seine Mundwinkel hängen ein wenig herunter, oder vielleicht sieht es nur so aus, das Licht im Restaurant ist noch nicht eingeschaltet. Draußen hängen die Wolken tief, und durch den Wind fliegt immer wieder der Aufsteller um, den der Wirt gerade aus unerklärlichen Gründen rausgestellt hat. Immer wieder muss er hinausgehen und ihn wieder hinstellen. Er scheint nicht auf die Idee zu kommen, es einfach sein zu lassen, vielleicht ist er froh, etwas zu tun zu haben. Valerie glaubt, dass hier noch über vieles gesprochen werden müsste, aber sie kann dieser Unterhaltung nur schwer folgen, wie einem verpassten Bus, dem man bis zur nächsten Haltestelle hinterherrennt, und dann ist er doch weg.
Dann kommt das Essen. Auf der Karte hat es nach genießbarem Essen geklungen, letztlich geht es aber doch überwiegend um Schnitzel mit Pommes. Sie hat sich was ohne Fleisch bestellt, also Pommes ohne Schnitzel, dafür aber mit Cola. Alle essen absolut wortlos.
Hinterher, nachdem sie noch zweimal rauchen war, wird noch immer nicht gesprochen: nicht über sie, nicht über Bernhard, nicht mal über ihre Mutter. Wie ein paar Shampoofläschchen und Cremedosen, die auf einer schleudernden Waschmaschine stehen und sich langsam und vibrierend um ein leeres Zentrum drehen, dreht sich das Schweigen um Bernhard.
Irgendwann geht es darum, wer die Rechnung bezahlt, 62,40 Euro. Der Kellner, der unverständlich gut gelaunt und bestimmt auch betrunken ist und dem strenger Küchen- und Körpergeruch anhaftet, räumt die Teller ab, und weil keiner die Rechnung bestellt, lässt sich Bernhard Kaffee bringen und dann noch einen Brandy, und als danach wieder niemand was sagt oder Anstalten macht, die Rechnung zu bezahlen, fängt ihre Mutter ein Pseudogespräch mit
Weitere Kostenlose Bücher