Gibraltar
Zimmer war, weil sie sich um Valerie sorgte. Man muss sich einfach klarmachen, dass all diese Menschen sich in Wirklichkeit kein bisschen für dich interessieren, und da kannst du jetzt verrückt dran werden, aber das wird die Sache nicht ändern. Die Sache ist einfach die, dass deine Vorstellungen und deine Wünsche nicht zwangsläufig etwas mit der Realität zu tun haben, und nicht zwangsläufig heißt, dass es eigentlich der Normalfall ist. Eine ganz einfache Erkenntnis, Valerie, dafür muss man im Prinzip nicht mal nach Spanien fahren. Andererseits: Wenn man dann schon mal in Spanien ist, kann man es ebenso gut hier begreifen wie woanders. Und wenn man diese im Prinzip ganz einfache Erkenntnis mal geschluckt hat, ergibt sich ein ganz simpler Clou, nämlich der, dass immer das Gegenteil von dem richtig ist, was man für richtig hält. Immer. Überall. Mit jedem. Es reicht vielleicht nicht für eine philosophische Doktorarbeit, aber es ist eine Orientierung. Die beste, die ihr in den letzten fünf Jahren untergekommen ist.
Und sie hatte zu Thomas neben sich gesagt: »Ich lasse mich von niemandem mehr benutzen. Auch von dir nicht.« Es war gar nicht als Vorwurf gemeint, sondern nur als Feststellung.
»Was soll das heißen?«, hatte Thomas gefragt, und sie hatte da ein wenig kleinlaute Erschütterung in seiner Stimme gehört. »Dass ich dich benutzt habe?«
»Ja. Wie das eben alle so machen.« Eigentlich, denkt sie jetzt, ist es sogar sein Verdienst, dass sie ihm das sagen konnte: ganz ohne Wut. Er hat geglaubt, ihr etwas schuldig zu sein, aber das stimmte nicht. Es war eher wie Indien suchen und Amerika entdecken. »Kein Grund, sich zu rechtfertigen«, hatte sie gesagt. Und zum ersten Mal hatte sie dabei das Gefühl, als sei sie diejenige mit den langen Armen.
Und jetzt ist es eben so, als sei sie an einem fremden Ort unter fremden Leuten aufgewacht. Es ist ein tolles Gefühl: Sie ist hier niemandem etwas schuldig. Sie könnte einfach losgehen. Da draußen liegt Spanien, der Sommer kommt. Den ganzen Scheiß hinter sich lassen, denkt sie, wie sie es schon oft getan hat. Urlaub machen. Es gibt keinen Grund, wütend zu sein. Sie wird nach Hause fahren, und ihr Leben wird weitergehen. Sie wird Nils sagen, dass er ein Arsch ist. Du wirst in Zukunft auf keine Stimme mehr hören, nicht von Aktionären und nicht von sonst jemandem. Du wirst nur noch auf deine eigene Stimme hören.
Hörst du, Valerie?
Sie ist wohl wieder eingeschlafen, nachdem Thomas aufgestanden ist, plötzlich schreckt sie auf. Thomas stürzt ins Zimmer, durchsucht den Nachttisch, die Schubladen, den Klamottenberg neben dem Bett. »Wo ist der Schlüssel? Der Autoschlüssel?«
Sie zuckt die Schultern, und selbst das kostet sie Mühe. Nicht nur, dass sie keine Ahnung hat, worum es überhaupt geht, es interessiert sie auch nicht. Vielleicht ist sie nur zu schläfrig, aber sie hat schlicht die Vermutung, dass es nichts ist, über das sie sich sorgen müsste.
Thomas stürzt zum Fenster und reißt die Vorhänge zur Seite, reißt das Fenster auf, brüllt irgendwas. Die Tatsache, dass er brüllt, lässt für sie zweitrangig werden, was genau er mit dem Brüllen eigentlich sagen will. Unten hört sie einen Wagen starten.
»Sie nehmen den Wagen. He!«, versteht sie jetzt. »He! Bleibt stehen«, aber es ist natürlich sinnlos und obendrein ein bisschen albern, so was aus einem Fenster im zweiten Stock zu rufen, während unten ein Auto wegfährt.
Thomas dreht sich zu ihr. »Hast du ihnen den Schlüssel gegeben? Warst du das? Mein Gott, die fahren über die Grenze, und dann ist das Geld … die Bank …« Und statt hinterherzurennen oder aus dem Fenster zu springen oder irgendwas zu tun, was man eben tut, wenn eine Angelegenheit so wahnsinnig wichtig ist, setzt er sich auf die Bettkante und fragt: »Hast du eine Ahnung, was das jetzt bedeutet?«
Und Valerie hat schon eine Ahnung, was das bedeutet, sie ist ja nicht blöd, aber es ist eben auch so, dass es nur ganz am Rande eine Angelegenheit ist, die sie betrifft, also sagt sie: »Nö.«
BERNHARD
1
S an Roque. Sie haben Ihr Ziel erreicht.«
Der Pfeil auf dem Bildschirm blinkte ins Nichts. Aber die Siedlung lag vor ihm am Ende der Straße, er konnte sie sehen. Der Motor lief. Im Licht der Scheinwerfer irrten Mücken durch die Nacht. Er war den ganzen Weg von Frankfurt bis hierher ohne Pause gefahren, vom Tanken und Pinkeln abgesehen. 2500 Kilometer. Dies war das Ziel. Er musste nur noch die
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