Gibraltar
die Reise gehen sollte, vielleicht doch lieber Bergführer in den Alpen oder Animateur auf Sardinien. Der würde nicht wiederkommen.
»Aber wenn die Papiere nichts wert sind, warum verkaufen Sie sie dann?«
Bernhards Blick war auf den Monitor gerichtet. Während er sprach, ging er mechanisch weiter Positionen ein. Wie im Schlaf.
»Weil es Leute gibt, die das Zeug haben wollen.«
»Okay.«
Bernhard drehte sich zu ihm. »Kannst du mit diesem ›Okay‹ aufhören? Entweder, du hast ne Frage, oder du hast keine Frage.«
»Darf ich denn noch was fragen?« Der Blick des Jungen war offen. Bernhard sah ihn prüfend an und nickte. »Von mir aus.«
»Warum werden die Anleihen noch gekauft, wenn der Staat pleite ist?«
»Erstens ist er nicht offiziell pleite. Zweitens: Die Ratings sind schlecht, aber die Bonds bringen hohe Zinsen. Drittens: Der Investor geht davon aus, dass das Ausfallrisiko kalkulierbar ist. Dass im Ernstfall jemand dafür haften wird.«
»Aber das stimmt nicht?«
Bernhard sah ihn an. »Du verfolgst die Schlagzeilen, oder?«
Der Junge nickte.
»Und? Was sagen die Schlagzeilen?«
»Na ja, die Griechen brauchen dringend Geld, um Schulden zu bezahlen. Diese Woche noch.«
»Und?«
»Wenn keiner ihre Anleihen kauft, sind sie entweder pleite –«
»Oder?«
»Oder sie kriegen Geld von der EU .«
Bernhard nickte. »Ein Bail-out.«
»Aber das will keiner.«
»Klar will das keiner.«
»Irgendwie versteh ich aber immer noch nicht, wie Sie jetzt Geld verdienen mit den Papieren.«
Bernhard korrigierte seine Sitzposition, drehte sich ein wenig mehr zu dem Jungen. »Was glaubst du? Werden die Griechen Geld am Kapitalmarkt bekommen oder nicht?«
»Ich denke schon.«
»Und warum?«
Der Junge zuckte die Schultern. »Sie finden ja auch Käufer.«
Bernhard lächelte. »Dein Vater hat dich nicht umsonst auf die teuren Schulen geschickt.« Ein Anflug von Stolz auf Jensens Gesicht. Bernhard wurde klar, dass das länger nicht mehr vorgekommen war: Lächeln.
»Und was, denkst du, denken die Anleger?«
»Die denken wahrscheinlich, dass sie nichts verkehrt machen können. Sie denken, dass die EU für die Anleihen geradestehen wird.«
»Genau das denken sie.« Wie ein zufriedener Lehrer. Der Junge wie ein Schüler, der etwas gelernt hat. Wie ein Sohn vom Vater.
»Aber das stimmt nicht, oder?«
»Im Lissabon-Vertrag steht, dass jeder Mitgliedstaat für sich allein verantwortlich ist. Daran werden sie sich halten. Es wäre gegen die Spielregeln. Jeder Staat ist selbst bis zum Anschlag verschuldet.«
»Das heißt, wenn Griechenland wirklich pleitegeht und Sie die Papiere dann zurückkaufen …«
Bernhard nickte zufrieden.
»Und die Differenz ist der Profit für die Bank.«
Der Profit der Bank. Mein Profit. »So sieht’s aus.«
Der junge Jensen zögerte, dachte nach. Bernhard hatte sich wieder seinen Monitoren zugewandt. Zwei neue Anfragen, es lief gut. Es lief sogar sehr gut.
»Aber was ist, wenn es doch ein Bail-out gibt?«, fragte Jensen. »Dann steigen die Kurse, und Sie müssen sie trotzdem zurückkaufen.«
»Wenn es kein Risiko gäbe, würde ich Opel Corsa fahren.«
Jensen schwieg eine Weile. Bernhard hatte ihn schon beinahe wieder vergessen, als er ihn sagen hörte: »Vielleicht sollte ich auch ein paar von denen shorten.«
Bernhard drehte sich noch einmal zu ihm. »Hast du ein Depot?«
»Mein Vater hat eins für mich eingerichtet. Ich mach nicht besonders viel damit.«
Eine Idee, nur ein Sekundenbruchteil. Was einen Händler von einem normalen Menschen unterscheidet: Er trifft Entscheidungen von lebensentscheidender Tragweite in Sekundenbruchteilen. »Hier? Oder bei einer anderen Bank?«
»Banque de Suisse, glaube ich.«
»Wenn du willst«, sagte Bernhard langsam und verbindlich, »stelle ich dir ein Portfolio zusammen, das von einem Zahlungsausfall profitieren würde. Nichts Riskantes. Nur zum Reinschnuppern.«
Jensen überlegte, aber nicht sehr lange. »Das wäre ziemlich cool.«
»Okay«, sagte Bernhard. Lächelte. »Dann her mit deinen Zugangsdaten.«
7
Jemand war da gewesen. Die Kartons mit Lebensmitteln, die er im Carrefour eingekauft und in der Küche abgestellt hatte, waren weg. Ebenso das Wasser und die Zigaretten. Nur der Whiskey stand noch da. Er stürzte in das große vordere Zimmer, in dem er geschlafen hatte: Sein Computer, seine Reisetasche und der Schlafsack waren weg.
Er suchte jedes Zimmer ab, selbst die in der oberen Etage, die er seit seinem Ankommen
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