Gibraltar
rechts der Autobahn verdorrte Wiesen, ein paar Zypressen oder Pappeln, ansonsten Borstgras und Ginster. Ein beigefarbener Golfplatz. Rumpelstilzchen, dachte er: Nur wurde hier das Gold zu Stroh. Manchmal blitzte zwischen den Hügeln die Küste auf: Skelette von Neubausiedlungen und unverputzten Apartmenthäusern. Er dachte nicht, dass es eine Schande war. Er versuchte, gar nichts zu denken.
4
Er war völlig ausgeruht erwacht. Carmen neben ihm, die Decke im Schlaf heruntergestrampelt, nackt. Er wendete sich ab. Die Vorstellung, dass ihr Schweiß ungehindert ins Laken und die Matratze sickern konnte. Dass er mit ihr in Berührung kam, selbst wenn er sie nicht berührte.
Wie sie ihn am Abend bedrängt hatte. Er war früh zu Bett gegangen. Anders als sonst war sie ihm bald gefolgt. Hatte versucht, ihn zu küssen, ihm in den Schritt zu greifen. Er hatte sich verweigert, eine Zeitlang, dann hatte er sich ihr überlassen und darauf gesetzt, dass sie seinen Widerwillen bemerken würde. Irgendwann war er eingeschlafen.
Er schlich durch das noch stille Haus, setzte konzentriert einen Fuß vor den anderen ins Badezimmer, als würde er für den Tag proben, ein Mensch zu sein.
Beim Eintreten gedimmtes Licht und sphärische Klänge. Seit gestern hatte er dieses Bild vor Augen, wie eine Vision, die man nicht loswird. Er wusste nicht, ob er es aus einem Film hatte oder aus den Nachrichten: ein Astronaut an der Außenseite seiner Raumfähre. Ohne Verbindungsleine, hinter ihm das makellose Schwarz des Weltalls. Schwerelos. Er stieg in die Duschtasse aus Muschelkalk. So klar wie das strahlende Weiß leuchtete die Erkenntnis: Das alles ist irrelevant. Das Wasser perlte an den Glasbausteinen ab, an seiner Haut. Lotuseffekt. Nichts blieb haften.
Die Küche war ein Schlachtfeld. Valerie hatte gegessen, oder was sie dafür hielt. Es war sechs Uhr früh. Überall gebrauchte Teller und Gläser, Spritzer von Ketchup, Zwiebelschalen, Kerngehäuse, Fettschlieren auf der Mineralgussplatte.
»Du bist noch wach«, sagte er ruhig. Seit sie da war, hatte er kaum zwei Sätze mit ihr gewechselt. Er stellte seine Tasche auf den Barhocker neben dem Tresen, schob die Hände in die Tasche. Fasste nichts an.
»Und du schon.« Sie blickte nicht auf, es war fast eine freundliche Begrüßung. Hatte die Füße auf den Tresen gelegt, ein Laptop auf den Oberschenkeln.
»Wie lange willst du eigentlich noch bleiben?«
Sie sah ihn kurz an, vielleicht erstaunt, vielleicht gleichgültig, dann blickte sie wieder auf den Monitor. »Und du?«
»Das ist mein Haus. Ich könnte dich rausschmeißen. Nicht umgekehrt.«
»Schön für dich«, sagte sie. Aus dem Lautsprecher des Computers kam irgendein Lärm. Er fragte sich nicht, was sie die ganze Nacht hier gemacht hatte. Er kannte das. »Haben sie dich gefeuert?«, fragte er.
»Und dich?«
»Nein, noch nicht. Ich fühl mich richtig …«, er streckte Rücken und Schultern, »… gut aufgelegt heute Morgen.«
»Schön für dich.«
»Also haben sie dich nun gefeuert, oder hattest du gar keinen Job?«
Sie hob den Kopf, ein paar verfilzte Zöpfe halb vor den Augen. Ihr wilder Blick, die Piercings in der Wange, diese Brille: Sie sah ein bisschen irre aus. »Ihr habt mich gefeuert.«
»Du bist von selbst gegangen.«
»Nein, ich meine: Leute wie du. Zocker.«
»Weißt du eigentlich, dass du ein bisschen irre aussiehst?«
Sie richtete sich ruckartig auf, das Notebook rutschte ihr von den Beinen und fiel herunter. Es klang nicht gut, als es auf dem Boden aufschlug. Gar nicht gut. »Autsch«, sagte er.
Sie sprang vom Hocker, entsetzt, ging auf die Knie, hob das Gerät auf, als wäre es ein Säugling. Ein Plastikteil war abgesprungen, die Tastatur hatte sich gelöst. »Scheiße«, schrie sie. »Du Arschloch!«
Er bewegte sich nicht.
»Ich hab fast ein Jahr dafür gespart!«
Er zuckte die Schultern. »Ist ja deine Sache, was du mit deinem Leben machst, aber deine Ausdrucksweise …«
Sie blickte auf den jetzt dunklen Monitor, dann zu ihm. Der Monitor hing nur noch an einem Scharnier. »Du Wichser!« In ihrer Stimme lag Verzweiflung. Sie versuchte, den Computer zuzuklappen, es gelang nicht. Hob ihre Schuhe auf, machte Anstalten, die Küche zu verlassen. Er sagte ruhig: »Ach so, Valerie … Wenn du nachher Zeit findest … Vielleicht kannst du hier ein bisschen Ordnung machen, bevor Magdalena kommt. Ich meine … sie ist eine ordentliche Putze, so was hat sie nicht verdient. Immerhin bist du nur zu
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