Gibraltar
»Für uns. Dass du mich so hintergehst …«
Er nahm seinen Mantel. Er musste das nicht hören. Wem könnte man davon erzählen? Wer würde eine solche Geschichte glauben? Er wollte an einer Bar sitzen, betrunken, unter Fremden. Die Runde mit einem Witz unterhalten, der mit der Pointe endete: »Dass du mich so hintergehst!«
»Du gehst jetzt nicht«, sagte sie. Wie eine Furie. »Du bleibst hier. Ich will von dir wissen …«
»So long, baby«, sagte er und ging an ihr vorbei. »War schön, dich mal wieder gesehen zu haben.«
Er hätte sich denken können, dass sie ihm folgen würde. Und nicht mehr abließ von ihm. Es nahm kein Ende, es wurde immer schlimmer. Für ihn war es lediglich ein Sonderfall des Wahrscheinlichen gewesen. Er erlebte das jeden Tag. Für sie aber: eine Fügung. Sie wurde immer penetranter, und sie würde nie mehr etwas anderes denken. Nie mehr. Eine Fügung rechtfertigt lebenslange Überzeugung. Und wenn nötig, mit Gewalt.
9
Am Morgen fuhr er erneut nach La Línea und versuchte, in der Farmacia Tabletten ohne Rezept zu bekommen. Die Apothekerin sprach ein wenig Englisch, verstand ihn aber nicht. Erst als er den Namen des Medikaments wiederholte und einen zusammengefalteten Hunderter auf den Tresen legte, sah sie ihn verstört an und schüttelte den Kopf. Holte ihren Vorgesetzten. Der erklärte ihm in etwas besserem Englisch, dass er das Medikament ohne ärztliches Rezept nicht bekommen könne. Bernhard versuchte ihn zu überzeugen, es sei ein Notfall. Schließlich einigten sie sich auf Valium, das Geld behielt der Apotheker.
Wieder in der Siedlung, legte er sich erschöpft auf die Matratze. Sein Hemd, das letzte saubere, war durchgeschwitzt. Er musste duschen. Sich rasieren. Eine Kaskade von Aufgaben brach über ihm zusammen. Er musste den Kontostand überprüfen und das Geld transferieren. Er musste regelmäßig atmen.
Er schrak auf, weil er ein Geräusch gehört hatte. Horchte ein paar Minuten lang, immer wieder den Atem anhaltend. Schließlich stand er auf, schlich zur Tür und spähte hinaus. Da war nichts.
Er rauchte eine nach der anderen, trank Whiskey dazu, pinkelte in eine leere Wasserflasche. Dann legte er sich wieder hin.
Als es dunkel wurde, nahm er eine Valium und versuchte zu schlafen. Es ging nicht. Er wälzte sich auf seiner Matratze, versuchte, seine Gedanken zusammenzuhalten wie ein einzelner Hund eine viel zu große Herde. Hörte die Bewegungen jedes einzelnen Moleküls. Schwitzte. Er nahm mehrere Tabletten; irgendwann war Tag. Bei der Vorstellung, hinausgehen zu müssen, erbrach er sich in die Kloschüssel.
Zwei Dinge holten ihn schließlich aus seinem Dämmer, seine Notdurft und das Geld. Erstere trieb ihn nach draußen, wo er neben die Hauswand schiss. In der Fensterscheibe sah er seine Bartstoppeln. Das Haar wie Gestrüpp. Die Augen glanzlos, der Blick leer. Ein Haufen Biomüll.
Drinnen steckte er sich eine Zigarette an. Sobald er das Geld auf das neue Konto transferiert hatte, würde es zwei, maximal drei Tage dauern, bis er darüber verfügen konnte. 10.000 Euro täglich am Geldautomaten, weltweit. Er sah ungeduldig zu, wie sich die Anzeige aufbaute. Pixelig. Er suchte nach der Zahl, die Bildaufteilung war ungewohnt. Das Geld war da. Er prüfte die anderen Konten, auch hier war die Überweisung erfolgt. Insgesamt 36.724.882 Euro und 72 Cent. Gebühren und Transaktionssteuer bereits abgezogen.
Es musste schnell gehen. Er suchte die Zugangsdaten von Lambord Didier Ltd., tippte mit zittrigen Fingern, wartete ungeduldig, wenn die schwache Verbindung die Anzeige zerhackte. Es dauerte lange. Stunden. Als die Transaktionen durchgeführt waren und er sich abmeldete, schloss er die Augen und klappte den Laptop zu. Drei Tage. Dann würde er hingehen, wo immer er hingehen wollte. Freiheit. Er schloss die Augen, wartete auf ein Gefühl, hörte in sich hinein. Da war nichts als Stille.
10
Simon aus dem Backoffice hatte ihn gefragt, ob sie noch auf ein Bier ins Beyond gehen wollten. Er hatte sich gut gefühlt den Tag. Oder wie man das sonst nennen sollte. Jedenfalls sprach nichts dagegen. Es war vernünftig, anzunehmen. Er wusste, dass Simon früher oder später von seinen Trades anfangen würde. Kein Problem, nein, nein, ich bin sicher, du weißt schon, was du tust, nur –
»Ja, Simon, du hast recht. Ich weiß, was ich tue.«
Er spürte das Bier schon nach der Hälfte des Glases, eigentlich schon nach dem ersten Schluck. Er sollte kein Bier trinken auf die
Weitere Kostenlose Bücher