Gibraltar
habe es nicht die späten sechziger, als habe es nicht die siebziger Jahre gegeben. Ich habe mich darüber geärgert, dass du gerade dieses Kapitel unserer Firma gewählt hast, um dich von ihr und von deiner Familie loszusagen, was immerhin dein gutes Recht war. Das ist mein Ernst, Thomas: Ich habe deine Entscheidung immer akzeptiert. Aber noch einmal die alten Vorwürfe aufzuwärmen, die in unseren Archiven längst von Historikern aufgearbeitet waren und inzwischen wieder verstaubten, nur weil die Nazis noch immer die große moralische Leerstelle für das namenlos Böse besetzt halten, das hat mich geärgert, Thomas. Die Selbstgerechtigkeit trug schon meine Generation vor sich her als Brustpanzer gegen die Eltern, und schon damals hatte man gute Gründe, sie lächerlich zu finden. Es ist wichtig, seine Eltern kritisch zu sehen, keine Frage. Aber das haben wir getan, Thomas: wir, die Töchter und Söhne, die Nachkriegsleute. Du, mein Sohn, du hattest niemals etwas zu tun mit diesen Dingen, noch weniger als ich, und es war ein durchschaubares Manöver, dem Unternehmen eine verdrängte Schuld zu unterstellen. Es hätte viele, viele andere Dinge gegeben, die ein intelligenter Junge wie du an dem System auszusetzen gehabt haben könnte. Du hättest die Firma dazu nicht einmal verlassen müssen, Thomas, du hättest offen kritisieren können, was auch ich damals, Anfang der neunziger Jahre, offen kritisierte: dass die Tendenz des Kapitals, sich immer mehr von der Welt der Güterproduktion abzulösen, in ein virtuelles Reich aus Terminkontrakten und Kaufoptionen führen würde. Und dass diese Tendenz, der damals nacheinander alle großen und dann auch kleineren Bankunternehmen erlagen, die gesamte Branche eines Tages in die Tiefe reißen würde, wie es ja dann auch geschehen ist. Ich habe es immer als deiner unwürdig angesehen, einen so fadenscheinigen und längst abgezahlten Schuldposten bemühen zu müssen, nur um jugendlichen Widerspruch zu artikulieren. Du weißt, Thomas, ich habe immer gesagt, was ich denke, und getan, was ich sage. In diesem Punkt hätte ich mehr von dir erwartet. Und wenn ich enttäuscht von dir war, damals, dann nicht, weil du dich von der Bank abgewendet hast, sondern darüber, wie du es getan hast.
Einen Verrat an den damaligen Inhabern des Bankhauses Alberts hat es nicht gegeben. Du hättest das bei deinen sogenannten Recherchen mühelos selbst herausfinden können, und vielleicht hast du es sogar getan. August Seliger und Robert Loeb waren Juden, »Volljuden« sogar, wie das damals hieß. Mein Vater hatte seit Mitte der zwanziger Jahre für Seliger & Loeb gearbeitet, er war der zentrale Devisenbeschaffer der Bank, was, wenn wir schon einmal dabei sind, in diesen unseligen Jahren die einzige Möglichkeit war, überhaupt Geschäfte zu machen. Dass jüdischen Bankiers wie Seliger und Loeb das Leben seit 1933 schwergemacht wurde, ist eine Schande und ein Verbrechen, aber es war nun einmal die herrschende Praxis, und das sogar per Gesetz. Loeb war aus all seinen Aufsichtsräten herausgeflogen, die Leute zogen zu Hunderten ihr Kapital aus der Bank, mit anderen Worten: Sie war so gut wie erledigt. Die Reichs-Kredit-Gesellschaft stand schon mit einem Übernahmeangebot Gewehr bei Fuß, und was das für Brüder waren, weißt du ja. Es war sicher nicht die Absicht meines Vaters, sich vorzudrängeln. Er hatte die schlimmsten Gewissensnöte mit sich auszutragen, Loeb und er waren gute Freunde. Und nur deswegen kam Seliger auf den Gedanken, den zuständigen Behörden meinen Vater als zukünftigen Geschäftsführer vorzuschlagen. Dass es dann nicht gelang, sie beide mit einer stillen Teilhaberschaft in der Bank zu halten, ist wiederum nicht die Schuld meines Vaters, und nichts zielt weiter an der Wahrheit vorbei, als ihn als Profiteur hinzustellen, der sich ein fremdes Unternehmen unter den Nagel gerissen hat. Mein Vater war es, der alle Vorbereitungen getroffen hatte, das Vermögen der beiden auf das Londoner Tochterinstitut umzuschichten. Alles ging fair zu. Sie haben einen Vertrag gemacht über die Rückführung der Bank nach dem Krieg. Den Vertrag gibt es heute noch, du hättest mich danach fragen können. Er liegt in meinem Safe. In diesem Vertrag steht schwarz auf weiß, dass mein Vater die Inhaberschaft über die Bank rein kommissarisch übernahm. Dass die Familien Seliger und Loeb nach dem Krieg nicht davon Gebrauch machten und die Bank zurückforderten, das kann man nun mal nicht meinem Vater
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