Gib's mir, Schatz!: (K)ein Fessel-Roman (German Edition)
Angeblich weckten diese Farben pränatale Erinnerungen an die schöne Zeit im Mutterleib. Das jedenfalls behauptete Frau Landmann, deren Erfindung die rote Höhle war. Den Kindern schadete der Farbrausch zumindest nicht, und die Menagerie aus Goldhamstern, Meerschweinchen und Zwergkaninchen hatte keine Chance, sich darüber zu beschweren. Dafür roch es streng.
Lars hatte einen Goldhamster aus dem Käfig genommen und streichelte das zarte Köpfchen des Tiers.
»Guck mal, Mama, er ist so süß! Richtig elotisch.«
Anne warf alle pädagogischen Vorsätze über den Haufen. »Du sagst das nie wieder, verstanden? Ich will nie wieder hören, dass du elotisch sagst!«
Hingerissen sah Lars auf. »Also ist es doch ein böses Wort?«
»Nie wieder!«, wiederholte Anne. »Versprich es mir!«
»Versprochen und nicht gebrochen«, kam es mit dumpfer Stimme aus den Tiefen seines Kinderherzens.
Erleichtert umarmte Anne ihn. »Danke, mein Schatz. Und jetzt komm, es ist schon halb vier. Wir fahren zu Oma.«
»Zu welcher?«, fragte Lars angstvoll.
Er mochte Joachims Mutter genauso wenig wie Anne. Denn die Ermahnungen und Spitzen galten mit unschöner Regelmäßigkeit auch ihm. Annes Schwiegermutter konnte es nicht lassen, permanent an Lars herumzumäkeln. Mal war er ihr zu laut, dann wieder zu still. Und dass er mit seinen fünf Jahren weder das ABC noch die Grundrechenarten beherrschte, hielt sie für eine dramatische Entwicklungsverzögerung.
»Wir fahren zu Oma Brownie.«
»Juhuuu!«, jubelte Lars. »Oma Brownie ist lieb! Sie hat mir gestern Abend ganz viele Geschichten vorgelesen!«
Annes Mutter hatte von Lars diesen Namen bekommen, weil sie immer unwiderstehliche Schokoladenkuchen für ihren Enkel backte: lecker, saftig und mit einer Glasur, die wie Honig auf der Zunge zerging. Im Gegensatz zu Mutti war diese Oma nämlich eine Künstlerin am Backofen. Joachims Mutter hingegen nannte Lars »Oma Brav«. Weil sie dauernd sagte, er solle brav sein.
Die beiden Großmütter waren ein echtes Kontrastprogramm. Während Oma Brav in einer engen, verklemmten Welt lebte, hatte Oma Brownie den größten Teil ihres Lebens in Hippie-WGs verbracht. Anne war mit indischer Sitar-Musik und Räucherstäbchen aufgewachsen, hatte als Kleinkind die Wände mit Fingerfarben bemalt und so ziemlich jeden Unsinn anstellen dürfen, auf den sie Lust hatte.
Ihre alleinerziehende Mutter war der Meinung gewesen, ein Kind brauche Freiheit. Schon als Anne ein Baby gewesen war, hatte ihre Mutter sie überall mit hingenommen: zu Öko-Festivals, Open-Air-Meditationen, Rock-Konzerten. In den Ferien waren sie wochenlang in einem buntbeklebten VW-Bus durch Italien und Griechenland gefahren, einmal sogar durch Indien. Als Anne sieben war, hatten sie in einem uralten Chevrolet Kaliforniens Hippieparadiese abgeklappert. Es war eine verrückte Kindheit gewesen.
Nachdem Lars angeschnallt war, fuhren sie in Richtung Stadtrand. Dort bewohnte Annes Mutter ein kleines Haus, naja, eher ein leicht baufälliges Gartenhäuschen. Umgeben von einem verwilderten Grundstück voller alter Bäume, war es ein wahres Kinderparadies. Lars hatte dort Narrenfreiheit, sehr zum Missfallen von Oma Brav. Sie fand Annes Mutter alles andere als »salonfähig«. Eifersüchtig wachte Mutti darüber, dass Lars nicht »verzogen« wurde.
Anne parkte den Wagen neben dem verbeulten Pick-up ihrer Mutter. Auf der Ladefläche standen ein paar alte, etwas ramponierte Möbel: ein geschnitzter Stuhl mit einer abgeschabten Sitzfläche, ein Tischchen, dem ein Bein fehlte, eine Kommode, von der Lack abblätterte. Oma Brownie restaurierte Antiquitäten. Was auch nötig war, nach all den flippigen Jahren, in denen sie sich mehr um ihre spirituelle Entwicklung als ums Geldverdienen gekümmert hatte.
Annes Mutter ruhte in sich. Shoppen war ein Fremdwort für sie, das Gemüse baute sie selbst an, ihre Klamotten stammten aus Second-Hand-Shops. Natürlich hatte sie auch die alternativ angehauchte »Villa Sonnenschein« für Lars mitausgesucht. Joachim wäre ein Edel-Kindergarten lieber gewesen, wodie Kleinen mit drei Jahren Englisch, Spanisch und Mandarin lernten.
Oma Brownie wartete schon am romantisch verschnörkelten, verrosteten Gartentor. Sie trug einen Jeans-Overall und, wie schon seit mindestens dreißig Jahren, eine Silberkette mit einem Peace-Anhänger. Man sah ihr nicht an, dass sie auf die Sechzig zuging. Noch dazu mit diesem schrägen, weißblondierten Kurzhaarschnitt.
Mit achtzehn hatte sich
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