Gib's mir, Schatz!: (K)ein Fessel-Roman (German Edition)
Anne von ihrer Mutter losgesagt. Wollte nichts mehr wissen von ihren spirituellen Ticks, hatte genug vom alternativen Leben. Zum Entsetzen von Oma Brownie hatte sich ihre Tochter für eine bürgerliche Existenz entschieden – ein Anlass für endlose Streitigkeiten und Auseinandersetzungen. Erst seit Lars vier Jahre alt war, kamen sie einander wieder vorsichtig näher.
»Hi, alles entspannt?«, begrüßte Oma Brownie ihre Tochter und ihr Enkelkind.
Anne überreichte ihr Marcs riesigen Rosenstrauß, den sie aus der Praxis mitgenommen hatte. »War superlieb, dass Lars wieder bei dir schlafen durfte.«
»Rote Rosen!« Oma Brownie schnupperte an den Blüten. »Für mich?«
»Die schenkt man jemandem, den man liebt.«
Anne wurde mulmig, als sie daran dachte, wem sie das üppige Bouquet zu verdanken hatte. So leicht wurde sie Marc bestimmt nicht los. Warum besaß er nicht die Anständigkeit, sich einfach in Luft aufzulösen?
»Ist irgendwas?«, fragte Oma Brownie. »Deine Aura ist dunkler als sonst.«
»Mami, was heißt Aura?«, wollte Lars wissen.
Endlich ein neues Wort, das in den alternativen Kindergarten passte. Frau Landmann würde hocherfreut sein, wenn Lars die anderen Kinder mit diesem Begriff beglückte.
»Die Aura ist sozusagen die Ausstrahlung eines Menschen«, erklärte Annes Mutter. »Daran erkennt man, wie jemand sich fühlt, was er denkt. Stell dir einfach einen farbigen Lichtkranz vor.«
Diese Erklärung war eine harte Nuss für Lars. Mit aufeinandergepressten Lippen dachte er darüber nach.
»Manche Menschen können die Aura sehen«, fuhr Oma Brownie fort. »Ich zum Beispiel. Bei dir ist die Aura ganz hell und bunt. Sie schillert in allen Regenbogenfarben.«
»Und bei Mami?«
»Mami hat eine ganz besondere Aura«, erwiderte Annes Mutter diplomatisch. »Kommt doch erst mal rein. Ich habe gerade grünen Tee gekocht.«
Sie gingen durch den Garten zum Haus. Zwischen wucherndem Gestrüpp, das die ersten Blättchen zeigte, blühten ein paar Primeln und Narzissen. Etwas abseits, unter einer mächtigen Ulme, stand ein verwitterter Springbrunnen, der von einem moosbesetzten Engel aus Marmor bewacht wurde. Lars flitzte sofort in den Geräteschuppen, wo seine Oma eine kleine Werkbank für ihn eingerichtet hatte.
Als Anne mit ihrer Mutter in die kleine, verkramte Küche des Hauses kam, sog sie tief den vertrauten Geruch von Tee, Gewürzen und Duftkerzen ein. Es war das Aroma ihrer Kindheit. Sofort fühlte sie sich wohl. Alles fiel von ihr ab, die turbulenten Ereignisse, die hinter ihr lagen, das rumpelige Zusammentreffen von Joachim und Marc in der Praxis, ihr Streit mit Tess, ihre bühnenreife Ohnmacht. Es war wie nach Hausekommen. Gerührt musterte sie das gemütliche Durcheinander des vollgestopften Raums. Die pinkfarbenen Wände waren mit Kinderzeichnungen von Lars bedeckt.
»Tee? Kekse?«, fragte Oma Brownie.
Anne sank auf eine hölzerne Bank, die mit bestickten indischen Kissen bedeckt war. »Beides.«
Ihre Mutter stellte die Blumen in eine Vase, dann holte sie zwei Porzellanbecher aus dem buntbemalten Bauernschrank. »Liebes, du brauchst mir nichts vorzumachen. Ist was mit Joachim?«
Sie hatte ihren Schwiegersohn immer im Verdacht, er könnte Anne einengen. Oma Brownie hatte nie verstanden, warum sich ihre Tochter ausgerechnet einen Anwalt aussuchen musste. Ein Musiker oder ein Maler wäre ihr lieber gewesen. Anne wusste das. Vermutlich war auch die Entscheidung für den äußerst korrekten, konventionellen Joachim ihre Form der Rebellion gewesen.
»Nein«, widersprach sie. »Joachim und ich verstehen uns gut.«
Während ihre Mutter den Tee eingoss, durchlief Anne ein wohliger Schauer, als sie an die vergangene Nacht dachte.
Sie biss in einen der Kekse, die in einer Silberschale auf dem Küchentisch lagen.
»Raffiniert«, seufzte sie kauend. »Was ist das für ein Gewürz? Anis? Zimt? Kardamom? Oder hat Schuschu was Neues entdeckt?«
»Geheimrezept«, raunte ihre Mutter verschwörerisch.
Anne nannte sie Schuschu, so lange sie denken konnte. Nicht Mami, Mutti, einfach nur Schuschu. Kein Mensch wusste, warum. Für Anne war dieses Wort der Inbegriff derGeborgenheit gewesen. Aber ihre alternative Mutter hätte sich auch geweigert, Mami oder Mutti genannt zu werden.
»Es steht mir nicht zu, dein Leben zu bewerten«, wechselte Oma Brownie das Thema. »Doch ich habe den Eindruck, dass du kein Eigenleben entwickelst. Du hast Kunstgeschichte studiert, jetzt arbeitest du als Empfangsdame. Ist
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