Gib's mir, Schatz!: (K)ein Fessel-Roman (German Edition)
hellgraue Wände, anthrazitfarbene Möbel, grauweiß gebeizte Dielenbretter. Die einzigen Farbtupfer waren auch hier großformatige Gemälde in Knallfarben. Auf dem Edelstahltresen standen zwei Champagnergläser.
Während Tess eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank holte, sank Anne auf einen Barhocker vor dem Tresen. Sie stand noch immer unter Schock. Seit dem Telefonat mit der Kanzlei hatte sie keinerlei Emotionen gezeigt. Sie hatte weder geweint noch geschrien oder sonst wie reagiert. Etwas in ihr war abgestorben.
»Ich habe schon ein paar Pläne in petto«, schwatzte Tess drauflos. »Morgen früh stählen wir unsere Körper im Fitness-Studio, danach futtern wir uns die abtrainierten Pfunde bei»Loretta« wieder an. Und abends – tädäää! – geht es in die verbotenen Zonen der Erotik! Was sagst du?«
Mit vor Unternehmungsgeist gerötetem Gesicht goss sie die Gläser voll und schob eins zu Anne rüber. Jetzt erst fiel ihr auf, dass ihre Freundin wie ein Schluck Wasser in der Kurve hing.
»Schnecke? Ist dir nicht gut?«
Anne konnte nicht antworten. Wo anfangen, wo aufhören?
»Hey, was ist mir dir?« Tess lief um den Tresen herum und legte einen Arm um die Schultern ihrer Freundin. »Du bist ganz grün im Gesicht.«
Mit ihrem letzten Rest Galgenhumor sagte Anne: »Gestern stand ich noch am Rande des Abgrunds. Heute bin ich schon einen Schritt weiter.«
»Wie jetzt? In welchen Abgrund bist du gerauscht?«
»Ich glaube«, krächzte Anne heiser, »ich glaube, Joachim betrügt mich.«
Jetzt war es heraus. Sie fühlte sich wie ein geprügelter Hund. Alles tat ihr weh.
»Mein kleiner Sonnenschein«, giftete Tess. »Immer optimistisch, immer gut drauf. Aber jetzt mal im Ernst: Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?«
»Das ist kein Blödsinn«, flüsterte Anne. »Willkommen auf der Resterampe meiner großen Liebe. Was würdest du denn denken, wenn Bernd dir erzählt, er hätte ein Wochenendseminar – und dann erfährst du, dass er auf eine Lustreise nach Sardinien fliegt?«
Betroffen schlug Tess die Hand vor den Mund: »Sag das noch mal.«
»Dadurch wird es auch nicht besser«, erwiderte Anne matt. »Ich wäre ja froh, wenn es nicht stimmte, aber die Tatsachen sprechen gegen Joachim.«
Tess warf sich kämpferisch in Positur. »Meine Meinung steht fest, bitte verwirre mich nicht mit Tatsachen! Joachim liebt dich! Sicher, er ist nicht der leidenschaftliche Romeo, den du dir wünschst. Er ist eben Joachim, der verdrahtete, knochentrockene Anwalt. Aber fremdgehen? Niemals!«
»Zumindest würde das erklären, warum er monatelang nicht mit mir geschlafen hat. Und warum er sich Anregungen aus dem Internet holt. Wer auch immer die Frau ist, mit der er mich betrügt – wahrscheinlich stellt sie mehr Ansprüche als ich.«
Nun war es vorbei mit Annes Beherrschung. Von einer Sekunde auf die andere brach sie in Tränen aus.
»Ich komme mir so doof vor«, schluchzte sie. »So grottendoof. Verführung! Reizwäsche! Sexspielzeug! Der Zug ist längst abgefahren … Übrigens«, sie holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzte sich, »Lars hat den Mundknebel gemopst und mit in den Kindergarten genommen. War ein Riesenskandal. Ich dachte schon, die Erzieherin schmeißt uns raus.«
Tess fiel es schwer, ernst zu bleiben. »Er hat – was?«
»Ach, ist nur ein unwichtiges Detail, gemessen an dem ganzen Desaster«, sagte Anne müde.
»Aber ein saukomisches Detail«, kicherte Tess. »O Mann, riechst du das?«
Sie rannte zum Herd, wo es aus einem bauchigen Topf rauchte und qualmte. »Verdammt! Der Reis!«
Sie riss den Topf vom Cerankochfeld, wuchtete ihn in dieSpüle und ließ Wasser hinein, das zischend verdampfte. Dann stellte sie die Abzugshaube an.
»Nicht so schlimm.« Anne spielte deprimiert mit ihrem Ehering. »Ich habe sowieso keinen Hunger.«
»Kommt überhaupt nicht in die Tüte«, widersprach Tess. »Wir essen jetzt erst mal was Anständiges. Und dann erzählst du mir nochmal ganz genau, was passiert ist.«
Eine Stunde und einige Gläser Champagner später hatte Tess ein Wunder vollbracht: Schritt für Schritt kraxelte Anne aus dem tiefen Tal der Tränen, in das sie gefallen war. Immer wieder hatte Tess sie beschworen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Meist klärten sich solche Vorfälle irgendwie auf, beteuerte sie. Anne solle jetzt bloß nicht einknicken.
»In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten!«, krönte Tess ihr flammendes Plädoyer für Joachim. »Kann
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