Gib's mir, Schatz!: (K)ein Fessel-Roman (German Edition)
unverfängliches Wort. »Das sind so kleine Dinger, die deinen Körper stark machen.«
Skeptisch starrte er in sein Glas. »Leben die?«
»Nein, nein, das sind einfach sehr gesunde Stoffe, die im Obst und im Gemüse enthalten sind. Und jetzt trink aus, wir müssen gleich losfahren.«
Tonnenschwer lastete das schlechte Gewissen auf Annes Schultern. Sie hatte einiges bei Joachim gutzumachen. Sie musste ihm schnellstens beichten, was sie mit Tess angestellt hatte, auch wenn es ja etwas Harmloses war. Und er? Was hatte er zu beichten? Was hatte sich in dem Ferienhaus abgespielt?Hatte er dort übernachtet? Zwei erwachsene, attraktive Menschen unter einem Dach, unter südlicher Sonne, da kam man sich schneller näher als in der sachlichen Arbeitsatmosphäre einer Anwaltskanzlei.
Die Woche, die vor ihr lag, machte Anne Angst. Sie ging noch einmal in die Küche, wo ein Wochenkalender mit den wichtigen Terminen hing. Moment, was war das?
»Schlafsackparty/Villa S.«, hatte sie vor langer Zeit für den heutigen Tag eingetragen. »Was fürs Frühstück mitbringen (Obst, Brot, Säfte). Taschenlampe nicht vergessen!!«
Einmal im Jahr übernachteten die Kinder in der »Villa Sonnenschein«, was immer ein Highlight für die Kleinen war. Dann durften sie mit Taschenlampen durch die dunklen Räume geistern, und Frau Landmann las ihnen Gespenstergeschichten vor. Selbstverständlich handelten die Geschichten nur von ganz, ganz kleinen, ganz, ganz lieben Gespenstern. Was denn sonst? Bei Frau Landmann waren sogar die Gruselgeschichten weichgespült.
»Heute ist Schlafsackparty!«, rief Anne ihrem Sohn zu, während sie zur Abstellkammer hastete.
»Jaaaa! Yippiiee!«, freute er sich. »Super, Mami!«
Das Aufräumen in der Abstellkammer hatte sich gelohnt. Ohne Mühe fand Anne Schlafsack und Taschenlampe. Sie stopfte beides in eine große Reisetasche, lief damit in die Küche zurück und packte einige Äpfel sowie zwei ungeöffnete Flaschen Orangensaft dazu. Dann machte sie sich mit Lars auf den Weg zum Kindergarten.
Während sie losfuhr, dachte sie abwechselnd an Joachim und Tess. Wo würde Joachim schlafen? Bei seiner Mutter? Wie stellte er sich die nächsten Tage, Wochen, Jahre vor? Mindestensso große Sorgen machte sie sich um Tess. Dieser Ramon schien ein sehr dominanter Mann zu sein. Hoffentlich keine allzu schmerzhafte Erfahrung.
Ich könnte Tess heute Abend treffen, überlegte Anne. Lars schläft im Kindergarten, und Tess braucht jetzt eine Freundin an ihrer Seite.
»Mami, darf ich heute Nacht Soja-Marie erschrecken?«, meldete sich Lars aus dem Kindersitz.
Soja-Marie kam aus einem sehr ökobewegten Elternhaus, wie schon ihr Name verriet. Lars war ein bisschen verknallt in das Mädchen. Auf eine liebe, unschuldige Weise – was für einen Fünfjährigen bedeutete, dass er sie gern neckte.
»Ja, darfst du«, seufzte Anne, »aber treib es nicht zu bunt. Das mögen Mädchen nicht. Man muss sie zart behandeln.«
Ob der Fürst der Finsternis diese goldene Regel kannte?
An einer roten Ampel zog Anne ihr Handy aus der Handtasche und tippte in Windeseile: »Heute Abend um sieben?« An der nächsten roten Ampel las sie die Antwort: »Um sieben im Club de Sade, Adresse folgt.« De Sade? Den Namen musste sie unbedingt im Internet nachgucken.
Die Ampel schaltete auf grün, und Anne verbrachte den Rest der Strecke mit dem vergeblichen Versuch, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatten sich zu einem wirren Knäuel verknotet, in dem Tess und Joachim herumturnten. Innerhalb weniger Tage war ihr Leben so kompliziert geworden, dass sie einen Assistenten gebraucht hätte, um die Fäden dieses Knäuels zu entwirren.
Kaum hatte sie den Mini vor der »Villa Sonnenschein« zum Stehen gebracht, als Frau Landmann mit ausgebreiteten Armen auf den Parkplatz gelaufen kam. Wie ein Raubvogel, derein Beutetier erspäht hatte. Schnell stieg Anne aus und befreite Lars aus dem Kindersitz.
»Lauf schon mal rein, ich bringe dir gleich die Tasche!«
Aufgeregt mischte sich Lars in den Strom der anderen Kinder, die mit ihren schwer bepackten Eltern dem Eingang der »Villa Sonnenschein« zustrebten.
»Frau Westheimer!« Außer Atem blieb die Erzieherin vor Anne stehen. Ihre Mundwinkel waren tief herabgezogen. Eine metertiefe Zornesfalte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. Und wieder zog sie etwas aus der Tasche, wie der Zauberer ein Kaninchen. Es waren Handschellen. DIE Handschellen. Deshalb waren sie auch nicht aus silberfarbenem Metall, wie man sie
Weitere Kostenlose Bücher