Gib's mir, Schatz!: (K)ein Fessel-Roman (German Edition)
Die riesige, runde Halle reichte drei Stockwerke hoch. Eine geschwungene Treppe mit einem verschnörkelten, goldfarbenen Geländer führte in die oberen Gemächer. Die Wände ringsum waren mit gelbem und schwarzem Marmor verkleidet, von der Decke hing ein monströser Lüster. Sprachlos nahmen Anne und Tess die Pracht in Augenschein. Weiße Statuen, die nackte Jünglinge und üppige Frauen darstellten, schauten ihnen dabei zu. Der zentrale Blickfang aber war ein monumentales Gemälde. Es hing direkt gegenüber dem Eingang.
Anne blieb die Spucke weg. Mit steifen Schritten stöckelte sie auf das Gemälde zu. In einem über und über verzierten Goldrahmen, auf einer Fläche von etwa drei mal vier Metern, lächelte ihr ein Mann entgegen, der ihr bekannt vorkam. Genauso wie sein spöttisches überhebliches Lächeln. Er trugeine schwarze Uniform und darüber einen wehenden schwarzen Umhang. Seine Augen waren hinter einer schwarzen Maske verborgen. Trotzdem hatte Anne keine Mühe, ihn zu erkennen. »Ach, du dickes Dotter«, sagte sie.
Tess war in Andacht erstarrt. »Der Fürst der Finsternis«, kam es tonlos von ihren Lippen.
Anne steckte ihre eiskalten Hände in die Taschen ihres Trenchcoats. »Sieht so aus, als ob Ramon die Bude hier gehört.«
»Zutrauen würde ich es ihm«, flüsterte Tess vollkommen hingerissen.
Ein livrierter Diener eilte auf sie zu. Er war bedeutend jünger als die Wachsfigur am Eingang, wirkte aber genauso blasiert.
»Die Damen? Kann ich Ihnen möglicherweise weiterhelfen?«, fragte er. »Es schickt sich nicht, der Großen Zeremonie im Ballsaal in Mänteln beizuwohnen. Die Regeln des Hauses gebieten frivole Nacktheit. Hätten Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit abzulegen?«
Ziemlich perplex sahen Anne und Tess sich an. In der Halle war es zugig, beide fröstelten. Kein Wunder, sie waren ja auch halbnackt unter ihren Mänteln.
»Hätten Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit, uns in Ruhe zu lassen?«, fragte Anne zurück. »Ich behalte meinen Mantel an!«
»Wie Sie wünschen«, lispelte der Diener gekünstelt vornehm. »Dann bitte dort entlang, in den Blauen Salon, wenn ich die Damen untertänigst bitten dürfte.«
Er deutete auf einen dunkelroten Samtvorhang neben dem Gemälde. Voller Unbehagen folgten die beiden Freundinnenseiner Aufforderung. Es war alles ziemlich seltsam, fand Anne, die nach dem Ausflug in den »Playland Club« etwas ganz anderes erwartet hatte. Der offensichtliche Luxus und die gestelzte Förmlichkeit irritierten sie. Nach einer Sadomaso-Session sah es auch nicht aus.
»Kann es sein, dass dein Operettenfürst dich verladen will?«, wisperte sie Tess zu, als sie vor der Samtportiere standen. »Ich meine, wir schlagen hier in unserer sexy Kluft auf, und nachher ist es eine sturznormale Party, nur mit Masken. Dann gucken wir echt blöd aus der Wäsche. Apropos: Deine Wimperntusche ist verschmiert. Du musst dir das Gesicht waschen, sonst halten die Leute dich für einen Zombie.«
»Okay, fragen wir den eingebildeten Kellner, wo man hier mal für kleine Mädchen kann, bevor wir da reineiern.«
Sie sahen sich nach dem Diener um. Er war spurlos verschwunden. Immer neue elegante Gäste strömten in die Eingangshalle.
»Dann suchen wir die Toilette eben selber«, beschloss Anne.
Auf der anderen Seite des Gemäldes fanden sie zwischen zwei Statuen eine unscheinbare schmale Tür. Ein letztes Mal sahen sie sich um, dann gingen sie hindurch und betraten einen schummrigen Gang. Die einzige Deckenleuchte darin war so weit heruntergedimmt, dass man kaum die Hand vor Augen sah.
»Dunkel wie im Bärenpopo«, beschwerte sich Tess. »Wo ist denn nun die Toilette?«
Anne tastete sich hinter ihr an der Wand entlang. »Du, ich glaube, wir sind hier falsch.«
»Hurra! Eine Türklinke! Hier muss es sein!« Tess drückte die Klinke hörbar herunter, was ein lautes metallisches Scheppern hervorrief. »Ich glaube, das ist es. Oooooouuuhhh …«
Ein langgezogener Schrei, und im nächsten Moment war sie weg. Anne stand allein im Gang. »Tess?«, rief sie. »Tess?«
Nichts. Als hätte die Wand ihre Freundin verschluckt. Es war unheimlich. Vorsichtig tastete sich Anne weiter in die Richtung, wo Tess verschwunden war. Noch ein Schritt, und sie trat ins Leere. Heftig fiel sie nach vorn, flog auf die Seite und schoss mit irrwitziger Geschwindigkeit durch eine gewundene Röhre, die sie einige Meter tiefer ausspuckte. Auf einer dicken, weichen Matratze, direkt neben Tess.
»Was war das denn?«
Weitere Kostenlose Bücher