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Gib's mir

Gib's mir

Titel: Gib's mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Lloyd
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ihn mochte und begehrte, so wenig konnte ich mir eigentlich vorstellen, dass ich ihn jemals wirklich lieben oder ihm vertrauen könnte.
    Ich sah hinüber zu seiner Wohnung. Ich begann zu blinzeln, und mein Herz pochte plötzlich, so wie der Regen gegen die Scheiben. Irgendetwas – oder irgendwer – hatte sich dort drüben bewegt.
    Ich starrte weiter hin. Mein Computer summte. Drüben war plötzlich wieder alles still. War er wirklich zurück, oder hatten meine Augen mir bloß einen Streich gespielt? War es vielleicht nur die Spiegelung eines vom Wind bewegten Baumes gewesen?
    Aber nein, da bewegte sich wieder was. Freude, gezähmt von Ungläubigkeit, stieg in mir auf. Er war wieder zu Hause. Meine Aufregung wuchs. Die dunkle Gestalt kam näher ans Fenster. Vielleicht wollte er mir ein Signal geben.
    Dann fuhr mir kalte Angst wie ein Stich in die Eingeweide, denn Ilya trägt keinen Hut mit einem schwarz-weißen Band. Das tun nur Polizisten.
    Meine Augen fixierten die dunkle Gestalt, dann schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf.
    Ich ging hinüber zu dem vom Regen verhangenen Erkerfenster, und obwohl es nur knapp zwei Meter entfernt liegt, kam es mir vor, als würde dieser Weg eine Ewigkeit dauern, als würde ich ihn durch die Schwerelosigkeit zurücklegen müssen, in riesigen, klobigen Moon Boots.
    Vor Ilyas Haus parkte ein Polizeiauto, und seine Streifen aus reflektierender Folie leuchteten im trüben Licht der verregneten Straße.
    Er war tot.
    Fünf Tage lang hatte er dort drüben in einer Blutlache gelegen, langsam verwesend, und niemand wusste es, außer dem Mann, der ihn umgebracht hatte – erschossen, erstochen, zu Brei geschlagen –, weil er zu viele Schulden hatte.
    Er war nicht in Prag. Er war tot.
    Sie würden jemanden brauchen, der seine Leiche identifizieren konnte.
    Ich schlüpfte in meine Sandalen.

    «Und Sie wissen also, wo sich Mr.   Travis aufhält?», fragte der Beamte. «Oder wie wir ihn erreichen können?»
    Ich wollte schon Prag sagen, hielt mich dann aber zurück. Ich wusste nicht, ob ich der Polizei diese Information überhaupt geben durfte. Ich schüttelte den Kopf. «Im Urlaub, glaube ich, ich weiß noch nicht mal, wo.»
    Die Erleichterung war überwältigend. Sie schoss noch durch mich hindurch, so wie draußen der Regen in die Kanalisation rauschte. Er war nicht tot. Bei ihm war nur eingebrochen worden, obwohl niemand so recht sagen konnte, wann.
    Ilyas Vermieter hantierte an dem zersplitterten Holz von Ilyas Wohnungstür.
    «Sie sind also keine sehr enge Bekannte von Mr.   Travis?», fuhr der Polizist fort.
    «Nein, nicht wirklich», erklärte ich. «Mehr so ein nachbarschaftlicher Kontakt.»
    «Also sehen Sie sich auch nicht in der Lage zu bestätigen, dass der Fernseher und der Videorekorder fehlen?»
    «Nein, ich glaube nicht», sagte ich achselzuckend, obwohl es verdammt offensichtlich war, dass dem so war.
    «Nun, dann werden wir wohl im Moment nicht viel mehr ausrichten können, befürchte ich», meinte er und klappte sein Notizbuch zu.
    Und das war’s dann wohl, mehr oder weniger. Mr.   Travis könnte sich ja dann nochmal melden, wenn er wiederkomme und noch irgendetwas als gestohlen melden wollte.
    Ich bemühte mich nicht mal nachzufragen, ob sie die Wohnung nach verwertbaren Fingerabdrücken untersuchen würden. Ich wusste, dass die Antwort lauten würde, dass es dafür keinen Anhaltspunkt gebe. So was passiert ständig. Mr.   Travis hat eben diesmal Pech gehabt.
    Besser das, dachte ich, als tot.

    Luke hat wirklich das Gesicht eines verwirrten Engels.
    Seine Augen sind kastanienbraun, mit Wimpern, die so lang sind, dass sie eigentlich einer Frau oder einem Kamel gehören müssten. Seine sonnengebräunte Haut ist makellos – er scheint fast nicht mal Poren zu haben –, und seine Züge sind perfekt und klar. Wenn da nicht die gebleichten Haare mit dem dunkel nachwachsenden Ansatz wären und der Ring, der seine Augenbraue durchbohrt, würde sein sauber, jungenhaftes Aussehen gewiss jedes Mutterherz anrühren und höherschlagen lassen.
    Und soviel er auch über Drogen und wilde Clubs schwafelte, sich als Skate-Punk gab und von schnellem Sex redete, war er doch, wie ich fand, enttäuschend bodenständig.
    Ich sehnte mich nach Ilyas kantiger Männlichkeit – nach seiner zu großen Nase, seinen schweren Lidern und seiner dunklen Haut. Mich verlangte nach seinem Scharfsinn, seinem Intellekt, seinem verteufelten Charme und seinen großen, finsteren Geheimnissen. Ich

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