Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
Gideon drückte die Tür auf und stieg eine schäbige Treppe bis in den vierten Stock hinauf. Er klopfte an die Wohnungstür.
»Wer ist da?«
Das Auge des Mannes erschien im Spion. »Wie gesagt, ich bin ein Freund von Mark Wu. Franklin van Dorn ist mein Name.«
»Was wollen Sie?«
»Ich habe die Zahlen.«
Blitzartig wurde der Riegel zur Seite geschoben und die Tür aufgerissen. Zum Vorschein kam ein kleiner, angespannt wirkender Europäer Mitte vierzig: rasierter Schädel, sehr fit und aufmerksam, schlank und muskulös. Er trug ein enges T-Shirt und eine weite, pyjamaartige Hose.
Gideon betrat die Wohnung. »Roger Marion?«
Ein knappes Nicken. »Mark hat Ihnen die Zahlen gegeben? Geben Sie sie mir.«
»Das kann ich erst, wenn Sie mir gesagt haben, worum es bei der ganzen Sache geht.«
Sofort trat ein misstrauischer Ausdruck in die Gesichtszüge des Mannes. »Das müssen Sie nicht wissen. Wenn Sie wirklich ein Freund von Mark wären, würden Sie nicht fragen.«
»Ich muss es wissen.«
Marion musterte ihn aufmerksam. »Warum?«
Gideon rührte sich nicht vom Fleck und schwieg. Gleichzeitig sah er sich in dem kleinen, überfüllten, aber sauberen Apartment um. An den Wänden hingen chinesische Drucke, Schriftrollen mit Ideogrammen und merkwürdige, farbige Teppiche, die ein umgekehrtes Hakenkreuz, umgeben von Yin-Yang-Symbolen und Spiralmustern, zeigten. Außerdem verschiedene Plaketten und Auszeichnungen, die sich bei genauerer Betrachtung auf Kung-Fu-Wettkämpfe bezogen.
Gideon widmete sich wieder Marion. Dieser erwiderte seinen Blick, als überlege er. Er wirkt nicht im Geringsten nervös. Irgendetwas an seinem Gebaren verriet Gideon, dass er keiner war, der den großen Macker markierte, dass er aber nötigenfalls durchaus gewalttätig sein konnte.
Ziemlich unvermittelt sagte der Mann: »Raus. Verschwinden Sie, sofort.« Er trat drohend auf Gideon zu.
»Aber ich habe die Zahlen …«
»Ich vertraue Ihnen nicht. Sie sind ein Lügner. Verschwinden Sie auf der Stelle.«
Gideon legte dem heranrückenden Mann die Hand auf die Schulter. »Woher wissen Sie …«
Furchterregend schnell packte der Mann seine Hand, drehte sie scharf und wirbelte ihn herum. »Scheiße!«, schrie Gideon, als der Schmerz durch Schulter und Arm zuckte.
»Raus.«
Er stieß Gideon zur Tür hinaus und knallte sie zu, der Riegel wurde wieder vorgelegt.
Gideon stand auf dem Flur und rieb sich nachdenklich die schmerzende Schulter. Er war es nicht gewohnt, aus einer Wohnung geworfen zu werden, kein sehr angenehmes Gefühl. Er hatte angenommen, dass es besser wäre, sich eine Geschichte auszudenken, als gar nichts zu sagen, aber vielleicht hatte er sich da geirrt. Er hoffte, nicht sein Fingerspitzengefühl zu verlieren.
Er fand Orchid im Teeladen vor, sie verputzte gerade einen Teller mit einer Riesenportion gepresster Ente und weißem Reis. »Die hatten keine Dim Sum, aber das hier schmeckt auch ziemlich gut«, sagte sie, wobei ihr ein wenig Fett am Kinn hinunterlief.
»Wir müssen los.«
Er überging ihre Proteste, drängte sie aus dem Laden und ging hinüber zur Grand, wo sie ein Taxi bestiegen.
»Krankenhaus Mount Sinai«, sagte er zum Fahrer.
»Wollen wir deinen Freund besuchen?«, fragte Orchid.
Gideon nickte.
»Ist er krank?«
»Sehr.«
»Das tut mir leid. Was ist denn passiert?«
»Autounfall.«
An der Anmeldung nannte Gideon seinen wahren Namen und vergewisserte sich, dass niemand außer der Krankenschwester ihn sprechen hörte. Zwar sah er ganz anders aus als der Gideon Crew, der nach dem Unfall hier reingekommen war, aber er war überzeugt, niemandem zu begegnen, der ihn in dem riesigen Stadtkrankenhaus schon mal gesehen hatte. Als er früher am Tag angerufen hatte, hatte er erfahren, dass Wu von der Notaufnahme auf die Intensivstation verlegt worden war. Noch besser: Man hatte ihm mitgeteilt, dass Wu aus dem Koma erwacht sei. Er sei zwar noch nicht bei vollem Bewusstsein, man glaube jedoch, dass er es bald sein werde.
Bald – das wäre jetzt.
Gideon war vorbereitet hierhergekommen, er hatte sich einen wunderschön ausgearbeiteten Plan zurechtgelegt. Er würde mit Wu sprechen, sich als Roger Marion ausgeben und aus dem Wissenschaftler alles herausbekommen – den Aufbewahrungsort der Pläne, die Bedeutung der Zahlen, alles. Er war seinen Plan in allen Einzelheiten durchgegangen und sich zu mindestens neunzig Prozent sicher, dass er funktionieren würde. Er bezweifelte stark, dass Wu »Roger« jemals getroffen
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