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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war seine letzte Eintragung.«
    Christopher sah ihn aus großen Augen an. Flagg hatte ihn immer gemocht, das wußte er, und er hatte keinen Grund, dem Butler etwas anzutun. Aber warum erzählte er ihm das alles, gerade jetzt, in einem Moment, wo es wahrhaftig anderes zu erledigen gab.
    »Ich habe es gesucht und nirgendwo gefunden, viele Nächte lang. Aber mir ist es nicht erschienen.«
    Christopher lächelte. »Sie ist auf dem Speicher.« Er wußte selbst nicht, warum er dem alten Mann sein Geheimnis verriet. Vielleicht war es das Gefühl, jemanden getroffen zu haben, der ähnlich fühlte wie er selbst: Eingeengt von all dem Reichtum, dem Manierismus der Muybridges und ihrer Bälger, und dabei unfähig, selbst so zu werden wie sie.
    »Sie?« fragte Flagg zögernd.
    Christopher nickte. »Die Gewebefrau, oben, in der Dachkammer.«
    Mit einem Mal schien der Butler verwirrt – verwirrt und unsagbar traurig. »Aber dort war ich. Und ich habe niemanden gesehen!«
    Christopher wurde ungeduldig und wollte etwas erwidern, aber der Butler drehte sich einfach nur um und ging mit hängendem Kopf davon.
    »Wahrscheinlich bin ich ihrer nicht würdig«, sagte er leise. Seine Stimme klang dumpf und verloren, während er sich langsam entfernte.
    »Nicht würdig…«, flüsterte er noch einmal. Dann schlug die Finsternis des Ostflügels über ihm zusammen wie die Oberfläche eines stillen Sees, und die Schwärze verschluckte ihn samt seiner Geheimnisse.
     
    Sie stürmten die Wendeltreppe hinauf und konnten immer noch nicht begreifen, was gerade geschehen war. Was war in den Butler gefahren? Warum hatte er ihnen nicht geholfen? Und vor allem: Wen hatte Christopher auf dem Speicher getroffen?
    Gwen hatte das ungute Gefühl, daß sie es noch früh genug erfahren würden, denn die Treppe endete vor der Falltür zum Dachboden.
    »Ich gehe da nicht hinauf«, sagte sie, aber Martin schüttelte nur den Kopf, und sie wußte selbst, daß ihnen gar keine andere Wahl blieb. Von unten schallte das Krachen des Schürhakens herauf; nach dem bizarren Gespräch mit Flagg hatte Christopher sein Zerstörungswerk fortgesetzt. Es konnte nur noch eine Sache von Minuten, vielleicht sogar Sekunden sein, ehe das Holz der alten Tür unter der Gewalt seiner Schläge zerbarst.
    Martin stieß grob die Falltür nach oben. Er achtete nicht auf die Finsternis und den Schmutz, der ihm entgegenrieselte, aber Gwen erkannte an dem Ausdruck seines Gesichts, daß er in Wahrheit weit weniger entschlossen war, als er sich gab. Er sah sich kurz um, dann kletterte er nach oben.
    »Alles in Ordnung«, rief er nach einer Weile.
    Gwen schob erst Nicole zu ihm hinauf, dann Miranda. Die Kleine begann langsam wieder zu sich selbst zu finden. Der Schrecken der letzten Minuten schien ihren Schock zu verdrängen.
    Im selben Moment, da sie als letzte den Speicher betrat, hörte sie, wie unten die Tür nachgab. Der Flügel polterte mit einem berstenden Krachen auf den Boden, dann glaubte sie Christophers Schritte auf der Treppe zu hören.
    Gehetzt sah sie sich um. Der Dachboden war gewaltig, aber nirgends schien es einen zweiten Ausgang zu geben. Schmerzhaft machte sich in ihr die Erkenntnis breit, daß sie in der Falle saßen.
    »Schaut mal, da ist eine Tür«, rief plötzlich Nicole und deutete in die Schatten. Erst glaubte Gwen, die Kleine hätte sich getäuscht, aber dann sah auch sie den runden Metallknauf und die Fugen des Rahmens. Und ihr fiel ein, daß Christopher mit Flagg über eine Dachkammer gesprochen hatte.
    Sie kam nicht dazu, das Für und Wider abzuwägen. Die Schritte auf der Treppe waren näher gekommen, und Martin riß Gwen und die beiden Kinder einfach mit sich in die Richtung der Tür. Er zögerte ein letztes Mal, bevor er den Knauf herumdrehte und den Türflügel nach innen drückte.
    Gwen hielt die Luft an. Sie spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog, während das Holz mit einem Krächzen zur Seite schwang.
    Als die vier durch die Tür drängten, schien die Kammer lebendig zu werden. Im Zentrum des Raumes stand ein hoher Spiegel, uralt und derart von Staub und Spinnweben überzogen, daß seine matte Oberfläche kaum mehr als unförmige Schemen reflektierte, dunkle Gestalten, die Gwen erst auf den zweiten Blick als ihre eigenen Spiegelbilder identifizierte.
    Der schwere Rahmen lehnte an einem verschnörkelten Hutständer, dessen Haken, offenbar aus einem Tiergeweih gefertigt, durch unzählige Spinnenfäden mit den Wänden verbunden waren.
    Da erkannte Gwen, wo

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